Der Esel und das Hündchen

[72] Wir dürfen uns zu solchen Dingen,

Die uns nicht anstehn, niemals zwingen;

Denn einem Tölpel wird es nie gelingen,

Als zierlicher Galan einherzuspringen.

Nur wenig Leute sind es, die der Himmel liebt,

Nur wenig, denen schon Natur die Gabe gibt,

Die anderen durch Anmut zu erfreuen;

Man neide ihnen nicht die schöne Gabe

Und suche nicht, es ihnen gleichzutun,

Sonst wird man's bald bereuen,

Wofür ich hier ein schönes Beispiel habe.


Den plumpen Esel ließ die Lust nicht ruhn,

Mit seinem Herrn recht schön zu tun

Und sich bei ihm in Gunst zu setzen.

»Wie?« sprach er, »dieser kleine Hund

Lebt mit dem Herrn im Freundschaftsbund,

Leckt ihm die Hand, wohl auch den Mund,

Und ich soll nur am Stock mich wetzen?

Und was denn bringt ihn so in Gunst?

Er gibt die Pfote – schöne Kunst! –

Dann heimst er Lob und Küsse ein.

Wenn weiter nichts dazu gehört,

So kann auch ich beliebter sein.«

Und da ihn der Gedanke ganz betört

Und er nicht fern des Herren Stimme hört,

Läuft er in plumpem Trab zu diesem hin

Und hebt den Huf, der ganz voll Erde ist,

In kühnem Schwung dem Herrn ans Kinn,

Wobei er nicht vergißt,

Um seinem Kosen Wirkung zu verleihn,[73]

Aus vollem Halse sein »I-ah!« zu schrein.

»O welcher Sang und welche Schmeichelei!«

Ruft da der Herr. »He, Martin mit dem Stock!«

Und Martin mit dem Stock läuft schnell herbei

Und klopft dem Esel tüchtig seinen Rock.

Der stimmt jetzt an ein ander Lied.

Ich aber finde, daß ihm recht geschieht.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 72-74.
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