Der Hirte und das Meer

[67] Von dem, was ihm die eigne Herde trug –

Es war nicht viel, doch für Bescheidenheit genug –

Hat viele Jahre lang und ohne Sorgenplage

Ein Hirt gelebt am Meeresstrand.

Doch leider sah er dort fast alle Tage

Wertvolle Fracht und Schätze allerhand

Verladen, was ihn schließlich trieb,

Sein Vieh zu Geld zu machen

Und dies in Seegeschäften anzulegen.

Wie sehr er sich damit dem Trug des Glücks verschrieb,

Erfuhr er bald: Das Geld verschlang der Rachen

Der See, ausblieb der Segen.

Er mußte wieder Hirte werden.

Jetzt aber nicht wie einst als Herr von eignen Herden:

Er, der sich schon als halben Krösus sah,

Stand nun als armer Schlucker da.

Von neuem kam er schließlich hoch, der Schippenheld,

Und kaufte Vieh. Und als die Winde wieder

Sanft atmeten und Schiffen Glück verhießen,

Da sprach er: »Ha! ihr wünschet neues Geld?

Ihr schönen Wasser tut so schön und bieder.

Doch wendet niemals mehr euch hier an diesen,

Sucht andere Dumme, die ihr prellt!«


An der Geschichte ist kein Deut erfunden.

Sie ist ein wahres Beispiel, zu bekunden:

Ein Sous in Sicherheit ist oft

Mehr wert als fünf, die man erhofft.

Man soll mit seinem Los zufrieden sein

Und nicht dem Wasser und dem Wind

Ehrgeizig seine Ohren leihn.[68]

Auf einen Glücklichen entfallen

Zehntausend, die betrogen sind.

Reichtum verspricht das Meer euch allen,

Doch hütet euch und denkt daran,

Daß man vor Sturm und Raub kein Gut bewahren kann.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 67-69.
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