Der Quersack

[10] Jupiter sprach: »Mag jeder, der da lebt,

Erscheinen, um zu Füßen meiner Allmacht hier

Zu äußern, ob ihm etwas widerstrebt

An seiner Form, die er erhielt von mir;

Man mag es offen sagen,

Ich helfe ab den Klagen.

Dir, Affe, sei zuerst das Wort beschieden.

Sieh alle an, vergleiche die Gestalten

Mit deiner, sage mir: bist du zufrieden?«

»O ja! Ich darf mich für vollkommen halten.

Ich habe zwei Paar Füße, wie die andern auch,

Mein Bild ist gut. Doch scheint mir, daß mein Bruder Bär

Durchaus verpfuscht ist! Folgt er meinem Rat, der Gauch,

So läßt er nie sich malen.« Kam der Bär daher;

Man glaubte: um sich zu beklagen.

Nein, weit gefehlt! Er lobte seinen Körper sehr,

Doch hörte man ihn dies vom Elefanten sagen:

Zu kärglich sei sein Schwanz, sein Ohr zu lang und breit,

Er sei zu massig, viel zu schwer.

Der Elefant trat vor voll Selbstgefälligkeit,

Und er, der Weise, kramte aus demselben Sack:

Frau Walfisch sei zu dick, durchaus nicht sein Geschmack.

Die Ameis sprach, die Käsemilbe sei ein Zwerg,

Sie hielt sich neben ihr für einen ganzen Berg.

Jupiter hieß sie alle weiterwandern,

Da alle nur für andre sich beklagten.

Am höchsten in der Tollheit aber ragten[11]

Die unsrer Art hervor: Luchs gegenüber andern

Und Maulwurf vor sich selbst, glaubt gut sich jedermann,

Doch häßlich sind die Nächsten, die durchaus nichts taugen:

Sich sieht man mit ganz andern Augen

Als seinen lieben Nachbar an.


Als Quersackträger läßt uns Gott durchs Leben wandern.

Ich kenne keinen, den ich hiervon sauber wasche:

Für eigne Mängel dient des Quersacks Hintertasche,

Die vordre ist gefüllt mit Fehlern all der andern.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 10-12.
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