Der Wolf und der Hund

[8] Ein Wolf war nichts als Haut und Knochen,

Die treuen Hunde waren schuld daran.

Wie er nun einst so matt des Wegs gekrochen,

Traf er die schönste, stärkste Dogge an,

Die sich vom Herrenhof verlaufen hatte.

Der Hund war solch ein fester, wohlgenährter Klotz,

Daß neben ihm der Wolf nur eine hagre Latte.

So gern der's auch getan, so schien's ihm leider Gotts

Höchst ungeraten, diesen Burschen anzuspringen,

Denn solch ein Gegner war so leicht nicht zu verschlingen.

So also sprach voll Demut unser Wolf ihn an

Mit Komplimenten über seine Wohlgestalt.

Da sprach der Hund: »Mein schöner Herr, liegt Euch daran,

So fett zu sein wie ich, nun, so verlaßt den Wald,

In dem nur arme Schlucker lungern.

Ihr lebt ja nur, um zu verhungern,

Habt Tag und Nacht nicht Ruh und nichts zu schnabulieren;

Folgt mir, Ihr werdet ein vergnügtres Leben führen.«

Da sprach der Wolf: »Was hätte ich dafür zu leisten?«

Der Hund: »Fast nichts! Nur Leute zu verjagen,

Die Bettelsäcke oder Stöcke tragen,

Dem Hausgesind zu schmeicheln, und am meisten

Dem Herrn. Als Sold bekommt Ihr schöne Rester,

Hühner- und Taubenknochen – ja, mein Bester! –

Und manches Kosewörtchen obendrein.«

Der Wolf glaubt schon im Paradies zu sein.

Er weint vor Glück und will den Hund begleiten.

Da sieht am Hundehals er eine Stell,[9]

Wo abgeschabt erscheint das schöne Fell.

»Was ist das?« fragt er. – »Nichts!« – »Wieso?« – »Ach, Kleinigkeiten!« –

»Nun was denn?« – Drauf der Hund:

»Das Halsband meiner Kette rieb mich wund.« –

»Wie? Was? In Ketten dienet Ihr?

Lauft nicht, wohin Ihr wollt?« –

»Nicht immer. Doch was tut's?« – »Es tut so viel, daß mir

Die Lust vergeht nach Eurem schönen Sold.

Ich ging nicht mit um eine ganze Kuh!«

Und Meister Wolf hat sich getrollt

Und läuft noch immerzu.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 8-10.
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