Der Rat der Ratten

[29] Ein Kater, Nagespeck genannt,

Bereitete den Ratten solche Niederlagen,

Daß täglich kleiner wurde ihr Bestand.

Er hatte Hunderte schon in den Tod gesandt.

Von den Verbliebnen wagte keine ohne Zagen

Heraus sich aus dem Loch,

Und Schmalhans wurde Koch

Bei dieser unglückseligen Rattenschar,

Nach deren Meinung Nagespeck

Kein Kater, nein, ein Teufel war!

Als eines Tags der Höllenschreck

Hoch auf die Dächer stieg als Freier

Und weilte bei der Hochzeitsfeier,

Hielt ein Kapitel ab der Ratten Überrest,

Um zu beraten über ihre schwere Not.

Da meinte der Dekan, ein kluger Mann: »Es läßt

Sich wohl bekämpfen, was uns droht.

Wir brauchen nur zu sorgen,

Daß lieber heut als morgen

Der Feind ein Glöckchen um den Hals erhält,

Das warnend schellt,

Sobald er naht:

Wir flüchten schnell – er kommt zu spat!«

Dies Mittel, sprach er, sei

Das einz'ge, das er wisse.

Ein jeder stimmte bei,

Daß man das Glöckchen hängen müsse.

Doch wer? – Und wie? – Die armen Ratten sahn sich um.

Die eine meinte: »Ich bin nicht so dumm.«

Die andre sprach: »Ich werd es nicht verstehn.«[30]

Kurzum, so trefflich auch der Rat,

Man kam zu keiner Tat.


Ich habe viel Kapitel schon gesehn,

Die nichts als viele Worte hatten:

Kapitel, nicht von Ratten,

Nein, von der Mönche tapfrer Schar,

Von Domherren sogar!

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 29-31.
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