Die Spinne und die Schwalbe

[189] »O Jupiter, der du auf neuartige Weise

Aus deinem Hirn geheimnisvoll verstanden hast

Die Pallas zu gebären, die mir Feindin war,

Erhör mich einmal nur auf meiner Lebensreise:

Progne beraubt mich ohne Ruh und Rast

Der Nahrung, da sie immerdar

In Luft und überm Wasser jede Flieg erfaßt,

Die mir gehören sollt; es wäre mein Gewebe

Der Fliegen voll, wenn's nicht den bösen Vogel gäbe,

Denn gut gespannt und fest gewoben ist mein Netz.«

Also beklagte sich mit jammerndem Geschwätz

Die Spinne, die voreinst berühmte Stickerin,

Die jetzt als Spinnerin die Beutenetze wob

Und Anspruch auf das ganze Fliegenvolk erhob.

Der Philomele Schwester schnappte weiterhin,

Was vor den Schnabel kam, für sich und ihre Brut

In mitleidloser Freude, daß so groß und gut

Der Appetit der Kleinen war, die nackt im Nest

Mit offnen Schnäbelchen und gierigem Geschrei

Nach mehr verlangten, und die Schwalbe trug's herbei.

Ununterbrochen währte hier das Schlemmerfest,

Indes die arme Spinne dort

Bald nur aus Beinen noch und Kopf bestand

Und brotlos ihre Kunst befand.

Und endlich trug die Schwalbe selbst die Spinne fort,

Im Flug die Fäden streifend, dran sie hing.

Traurig das Ende, dem sie da entgegenging.[190]

Zwei Tische stellte Zeus bereit für jeden Stand:

Am ersten speisen die, die wachsam, stark, gewandt;

Am zweiten, dran die Kleinen hocken,

Gibt's nur der Großen Abfallbrocken.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 189-191.
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