Der Wolf und die Schäfer

[187] Ein Wolf, erfüllt von Menschlichkeit

(Wenn's solche gibt in dieser Welt),

Hat einst ob seiner Grausamkeit,

Obwohl bei ihm Notwendigkeit,

Ernste Betrachtung angestellt.

»Ich bin gehaßt«, sprach er; »von wem? von allen!

Der Wolf ist allen der gemeine Feind.

Er sei dem Untergang verfallen!

So schreien Jäger, Bauer, Hund vereint.

Jupiter schwindelt's droben vom Geschrei.

Bereits ist England ganz von Wölfen frei,

Man hatte Preise auf uns ausgesetzt.

Kein Junker, der uns nicht zu Tode hetzt,

Und keine Mutter, die nicht ihrem Kind

Beständig mit dem bösen Wolfe droht.

Das alles für ein räudig Rind,

Für ein verirrtes Schaf, für einen dreisten Hund,

Die ich verzehrt aus eigner Not.

Nun gut, beseitigen wir der Feindschaft Grund,

Verschonen wir fortan lebendiges Brot

Und sterben eher Hungers. Essen wir allein

Noch Gras. Das scheint mir nicht so schrecklich schwer

Wie jener grimme Haß von groß und klein.«

Indem er also sprach, gewahrte er,

Wie Hirten ein am Spieß gebratnes Lamm verzehrten.

Da sprach er: »Oh, ich schelte mein Begehr

Nach Blut der gleichen Sippe, ihre Hüter hier

Erquicken sich daran mit ihren Hunden.

Den Göttern Dank, daß sie mich schnell belehrten!

Wahrlich, ich wär das lächerlichste Tier!

Nein, mir soll weiterhin das Lämmchen munden,[188]

Selbst ungebraten, auch die Mutter, die es säugt,

Sowie der Vater, der's gezeugt!«


Der Wolf sprach recht. Begehn wir je ein Fest,

Für das nicht manch Getier sein Leben läßt?

Und wollen doch den Tieren nur gewähren,

Daß sie sich von der Kost des goldnen Alters nähren?

Ihr Hirten, hört und wißt,

Man kann dem Wolf nur unrecht geben

Da, wo er nicht der Stärkere ist.

Soll er als Eremit denn leben?

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 187-189.
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