Hundert und zwölfter Brief

Rosalia an Mariane S**.

[263] Ich habe einen neuen merkwürdigen Gast. Das ist ein sonderbarer Mann der alte Stiegen! Aber nie sah ich einen so einnehmenden und so geistvollen Alten, als ihn und meinen Oheim, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied,[263] daß, da Letzterer alle seine Ideen zu Thaten zu machen suchte, er sich mit vieler Klugheit, in seinem Wirkungskreis einschränkte, in diesem aber alles ausführte, was darinn zu thun war; weil er, wie er sagt, alles sein Feuer nur auf die Thätigkeit lenkte. Hingegen seine Geduld und Sanftmuth in seine Vorstellung eines Entwurfs, in seine Unterredungen mit den Leuten und in seine Beurtheilungen über andre legte. Durch dieses gewann er sich so viel Vertrauen und Liebe, daß er Mithelfer, oder doch wenigstens ruhige Zuschauer bey seinen Unternehmungen hatte. Beyfall, Dank und Nachahmung erweckte er in seinem Alter, Ruhe und Segen genießt er ungestört und er hat den Beweis gegeben, daß wenn also in dem von der Vorsicht ihnen bestimmten Stunde das Gute thäten, was ihnen darinn vorkommt, es wenige, sehr wenige unglückliche oder unzufriedene Menschen geben würde. Er erniedrigte sich nie, strebte auch nicht un ruhig in die Höhe. Er war der Sohn eines Gelehrten und durchging nach geendigten Schul- und Universitätsjahren die Stufen vom Sekretaire an, bis zum Geheimenrath als geschickter, sanfter und fleißiger Mann. Sein Freund Stiege kennt und liebt[264] das Gute und Wahre, wie er; und zum Glück für ihn selbst kannte er auch sich selbst und die, wie er behauptet, unbezwingbare Aufwallungen des Eifers für Recht und Wohl der Menschheit. Ehrwürdige Gesinnungen, welche wie mein Oheim sagt, ihm bey alten Republiken, oder in Amerika, wo eine Neue entsteht, einen Theil der gesetzgebenden Macht und der Vatersorge für das Volk erworben hätte; aber in unserm Staate, nach dem Gang der Gedanken, nach den Sitten und Wendungen die alles hat, setzt sie ihn in den Ruf eines unverträglichen, gewaltsamen und eigensinnigen Mannes. Bey dieser Unterredung sagte mein Cleberg: Die weiblichen Tugenden wären glücklicher, als die Tugenden der Männer, weil sie zu allen Zeitaltern gewünscht und geliebt würden. Also könnte wohl geduldiges Ertragen der Fehler, und das auf so tausendfache Weise sich zeigende Wohlwollen, die einzigen wahren Tugenden der Menschheit seyn, und die übrigen nur auf Millionen Bedürfnissen entstehen. Das mag seyn, aber diese Bedürfnisse haben auch die vielen Zweige der Künste und Wissenschaften hervor gebracht, durch welche Millionen von Freuden und Vergnügen über unserer Erde ausgegossen[265] worden. .... Sehen sie, Liebe! so ist manchmal der Ton unserer Gespräche, der sein Angenehmes um so besser erhält, weil er nicht immer herrscht, und wir recht wohl mit andern und mancherley Gattung von Menschenkindern umgehen und reden können.

Der alte Stiegen hat sein Zimmer gleich neben meinem Oheim, da lassen sie die Thüren des Nachts offen und sprechen noch miteinander aus ihrem Bette, bis einer von ihnen einschläft, von alten und neuen Zeiten, von Menschen und Gewohnheiten. Es ist höchstrührend, wenn sie nun nach dem Frühstück oder Mittagsessen so ihre Welt und die unsrige vornehmen: Stiege, mit Eifer die Alte lobt und vorzieht, mein Oheim die jetzige vertheidigt und ihre Verdienste hererzählt; Stiege ihm zuhört! manchmal mit Lächeln den Kopf schüttelt, oder mit Empfindung ihm zunickt; endlich seine Hand ergreift und sagt: Nun, mein lieber Eben, du bist noch immer der gute Junge der du in Halle warest, du vertheidigst jetzt Nationen, wie du die Schulfüchse in deinen Schutz nahmst, wenn ich und andre alte Pursche zu derb mit ihnen verfahren wollten.[266]

Mein Oheim erwiedert dann auch freundlich, Stiegen mit dem Finger drohend: Du hast mich manchmal für dich und andre geängstigt, wenn du so deinem wilden Eifer nachgiengst, und da auf den Augenblick alles gebogen oder in Stücken gebrochen haben wolltest. Oft dachte ich mich von dir loszureissen, weil du so unbändig warst; aber die Redlichkeit deiner Seele, die Wahrheit deines Gefühls und Liebe jedes Großen und Guten, zog mich wieder stärker an dich Eisenkopf, als an alle andre. Schön, gewiß, recht schön, glüht bey solchen Anlässen Freundschaft in ihren Augen, ernste Freude lacht in den Falten ihrer Gesichtszüge, und sie geniessen noch das schönste und beste Glück der Menschen, wechselseitige Hochachtung und Liebe. Der Zufall brachte hier, so wie er oft im Zusammenfluß von ärgerlichen Geschöpfen thut, an diesen zwey erlebten Männern und an uns übrigen in Seedorf gesammleten Leuten, eine recht schön gegen einander stehende und sich doch anschliessende gute Menschenzahl auf einen Fleck. Nehmen sie den eben so empfindlichen als vernünftigen Ott, meinen fertig liebenden und fein denkenden Mann, die sanfte, zärtliche Julie, mich,[267] Linken, Hannchen, Latten und die junge und ältere Frau Grafe, den herrlichen würdigen Pfarrherrn, und die so gute Bauren von Seedorf. Ja die Gegend umher, unsere und der Landleute Wohnungen, den Wald, die Berge, und den Bath, alles faßt sich in eine schöne Reihe glücklicher, wohlthätiger Kinder der Erde, beseelter und unbeseelter. – –

Ich komme so eben aus der gewohnten Dankpredigt, die am Ende und nach Einsammlung jedes Herbstes gehalten wird. Alles, was ich da fühlte und sah ist recht eigentlich dazu gemacht, an meine vorherige Gedanken angereihet zu werden. Die Kirche war voll, und schon dies freuete mich, das Gedränge zum Danken war der Beweis, daß sie den erhaltenen Segen mit Freuden fühlten. Alle Kleider, alle Gesichtszüge, waren festlich. Die Kirche wird ohnehin durch die Aufsicht des Pfarrherrn sehr rein und gut gehalten. Die Predigt, o meine Liebe! wie gerne sagte ich, es sey eine Engelszunge gewesen, die alle Herzen in Bewegung setzte. Wie einfach die Sprache und Ausdrücke, wie innig redete er die Alten, die Jüngern und Kinder an, da er ihnen das Bild der Erndte von ihrer Hände Arbeit und des von[268] Gott darauf gelegten Segens darstellte. Auch in den rauhesten Gesichtsbildungen erschien Empfindung. »Alte Hausväter, Hausmütter! Ihr hebt eure durch lange Arbeit kraftlos gewordenen Hände gewiß mit herzlichem Dank zu Gott, daß ihr die Schemen, die ihr für Kinder bautet, voll Früchte seht, die euer gesunder fleißiger Sohn mit fleißiger männlicher Stärke anpflügte und säete. Junge Väter, junge Hausmütter; freuet euch im Herrn, daß ihr eure euch von Gott zugeschriebenen Berufsgeschäfte treulich, nach der noch sehr lebendigen Kraft eurer Jahre verrichtet habt, sorgt durch euer Exempel, für eure kommenden alten Tage, auch noch Freudenthränen aus halb geschlossenen Augen zu weinen, wenn eure jetzt noch spielenden und auf eurem Schooße sitzenden Kinder, zu rechtschaffenen Landleuten herangewachsene Söhne und Töchter hinter vollen Wagen nach Hause kommen werden: Ach, sorgt, daß ihr redliche Hände zu Gott erheben könnet, und ihr, lieben Kinder! die ich alle getauft, und von dortan als treuer Seelsorger durch Unterricht zu Gott geführt, und durch tägliche Fürbitte seiner Gnade empfehle; ohne Sorge und[269] Mühe geniesset ihr jetzt Nahrung und Kleidung aus der fleißigen Hand eurer Eltern; aber alle Tage wachset ihr den Jahren zu, wo ihr Aecker und Wiesen, auf denen ihr jetzt jugendlich spielt und hüpft, mit den Schweise eures Angesichts werdet anbauen müssen. Freuet euch darauf! Es ist schön, von unserer mütterlichen Erde, durch treue Verwendung der Kräfte und Geschicklichkeit, Brodt und Kleidung zu verdienen! Folgt euren guten Eltern, euren guten Schulmeister und dem was ich euch durch Gottes Gnade immer Gutes lehren will; damit wir alle, das größte Glück der Menschen, das Zeugniß eines guten Gewissens geniessen mögen: nemlich, daß wir treulich alles gethan haben, wozu uns Gott in unserm Stande angewiesen hat.«

Er sprach in eben dem Tone und auch kurz mit den Handwerkern, dem Gesinde und den Armen, die er tröstete und ermunterte, endlich allen andern Landleuten der ganzen Welt auch Gutes wünschte, wozu eine so gute Oberherrschaft und Beamten zu rechnen wäre, wie sie hätten. Sie sollten auch daher die Pflichten, als Unterthanen gerne erfüllen und gedenken,[270] um wie viel glücklicher sie auch dadurch wären als viele Tausende ihrer Mitbrüder in allen vier Welttheilen. Unbeschreiblich, ganz und gar unbeschreiblich ist der Ausdruck der auf den einfachen Gesichtszügen lag, wie die alten Hände voll Falten und Schrunden zitternd erhoben wurden, und die starke fleischige Hand jüngerer Männer sich fester schloß. Die Knaben und Mädchen kindisch, halb aufmerksam, halb nachläßig, treuherzig den Pfarrer, Ahnen, Väter und Mütter beguckten, so wie sie angeredt wurden, sich nach den Handwerkern, Knechten, Mägden und Armen umsahen. Aber gewiß, obschon leicht und flüchtig, wie die Jugend ist, ging auch Rührung und Vorsatz des Guten über ihre Stirnen. Unser Kirchenstuhl ist nahe an der Orgel und vergittert, aber alle Augen waren dahin geheftet als der Pfarrer meinen Mann so rühmlich meinte, und dem Himmel sey Dank! in keinem Gesicht war ein Funke von Zweifel über das von ihrem Beamten gesagte Gute. Mein Oheim, dessen Thränen haufenweis in seinen vorgehaltenen Hut flossen, faßte Clebergs Hand und drückte sie ihm. Mein Mann fühlte es und küßte diese väterliche Hand dankbar in Hause Gottes, der[271] ihn an dieser Hand zu Ehren und Glück geleitet hatte. Ich, o Mariane, wie war ich bewegt! Ich kann sagen, jeder Athemzug war Gebet und Fürbitte für mich und für die ich sah, ach! wie leicht ists gut zu seyn!... Wie süß ist es, vom Guten reden, wie lieb war mir mein Mann, wie heilig, wie ehrwürdig der Pfarrer, der so Gott und der Tugend die Herzen zu öfnen weiß. Was war der Austritt aus der Kirche für mich, nachdem Ott die Orgel zu dem Te Deum gespielt und mein Cleberg und Oheim, Otte und die jungen Stiegen nebst mir dem Chor gesungen und Ott am Ende noch einige schöne in die Seele tönende Läufe gespielt hatte. Der ganze Kirchhof war voll von den Bauersleuten; alle sahen so liebend, so vertraut und vergnügt auf meinen Mann und ihren Pfarrer, der aus der Sakristey heraus kam. Cleberg ging mit schönen schnellen Schritten auf ihn zu, eichte schon, noch eine Strecke von ihm, nach seiner Hand und sagte: Lieber Herr Pfarrer! Gott segne sie für ihre Predigt. Aber wie kamen sie darzu, auf mich zu deuten? Er antwortete: Gott sey Dank! daß ich es mit dem Zeugnis der ganzen Gemeinde thun konnte. Nicht alle Pfarrer können[272] es, und es war die Frage von den göttlichen Wohlthaten für die Landleute; und ein Beamter, wie sie, gehört darunter. Dieß sprach der Mann noch so laut im Calzeton, und mit so einem Ausdruck in seinem Auge, daß mein Cleberg auch bewegt sagte, indem er sich zu den Bauren wandte: Gewiß, meine lieben Seedorfer, ihr dankt Gott auch mit mir, daß wir einen solchen Seelsorger haben. Wir wollen ihm auch alle treulich folgen. Ich gab ihnen, (setzte er mit nochmaliger Darreichung seiner Hand an den Pfarrer hinzu) mein Wort, und das Wort von meinen braven Landleuten dazu. Nicht wahr? sagt er, alle anblickend und ihnen mit seiner ganzen edlen Gestalt und offener Miene zulächelnd; ein redliches Ja! wurde gehört, und Freude, wahre Gottes, und Menschenfreude war in allen Gesichtern. O der schöne, glückselige Tag! möge er durch seine Erinnerung immer Gutes und Vergnügen in alle die Herzen zurückrufen. Ich mußte mich führen lassen, so sehr war ich von allen diesen seligen Empfindungen erschüttert. Nun läßt Cleberg Schinken, Käse und mürbes Brod auf morgen Nachmittag bestellen, und giebt bey der Linde Jungen und Alten ein Herbstvesperstück:[273] Bier, Wein und Musik. Der alte Stiegen behauptete, mein Oheim hätte dem Pfarrer die Predigt vorgeschrieben und vorgesagt, denn er hätte ganz den Geist seines Freundes darinn gesehen. Adieu und Dank, daß sie mich lieben und lesen.

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 3, Altenburg 1797, S. 263-274.
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