Hundert und dreyzehnter Brief

Rosalia an Mariane S**.

[274] Ich bin wirklich sehr böse über mich: denn da ich mein Briefbüchelchen nachsehe, so sind es so viele Tage, daß ich Ihnen Antwort und einen Brief schuldig bin. Meine Abwesenheit trug was zu dieser Verzögerung bey, aber es ist doch nicht recht; ich hätte aus dem Hause der Frau Grafe schreiben können. Doch meine Nachläßigkeit ist genug bestraft, da ich so lange Zeit ohne eine Unterhaltung mit Ihnen zugebracht habe, und dann erinnere ich mich, daß Sie ein Paarmal mir sagten, daß Sie in spätern Briefen von mir, eher das sehen, was[274] meinem Verstand und Empfindungen am meisten gefallen habe, als gleich anfangs, wo die Umstände mein zur Schwärmerey geneigtes Gefühl überraschen und manches schöner als wahr darstellten. Bey erfolgter Ruhe aber, rufte ich nur das in mein Gedächtniß zurück, was meinem eigentlichen Selbst am meisten Vergnügen gegeben hätte, und Sie glauben, daß Sie in meiner Art Sachen zu denken, zu beurtheilen und Entwürfe zu machen, nicht nur mein Inneres mehr sehen, sondern, daß auch meine wunderbaren Aufzüge von Leuten und Sachen, in Ihrem einsamen Aufenthalt, die entfernte Menschenwelt in einem gefälligen Licht erscheinen macht. – – Ich habe das Beste und Edelste, was in mir liegt. meinem Oheim und Ihnen zu danken. Mit ihnen beyden habe ich mein Bilderbuch von guten Menschen angefangen, und da ich so glücklich war, auf dem bisherigen Wege meines Lebens so viel Gute anzutreffen, so will ich fortmalen und bey ihnen meine Probe- und Meisterstücke aufstellen. Es muß einst in erlebten Jahren süsses Vergnügen für mich seyn, diese Sammlung durchzusehen und am Ende meiner Bahn durch die moralische Welt lauter Ideen um mich zu[275] haben, die der Beweis eines wohlwollenden Herzens sind.

Das ist nun eine lange Vorrede zu zweyen vielleicht sehr kleinen Gemählden, die Sie schon vermuthen, und ich will sie nun geschwind auspacken. Wir wurden von Frau Grafe gebeten noch ein paar Tage in Rehberg bey ihr zuzubringen; sie hätte ohnehin Fremde, die uns gewiß gefallen würden. Wir gingen auch vor sechs Tagen hin und trafen zwey Frauenzimmer und zwey Herren, die alle einen durch Bücher- und Menschenwelt ausgebildeten Geist zeigten. Wenigstens, sagt Cleberg, müßte viel Schönes und Merkwürdiges von ihnen vorbeygegangen seyn. Ich glaube, er will damit sagen, daß er ihnen keine gründlichen Kenntnisse zuschreibt. Es mag seyn, es liegt doch wahre Verehrung jedes Verdienstes in ihnen, und eines der Frauenzimmer kennt die Gesinnungen der Freundschaft gewiß ganz, denn es ist ihr Heiligthum, in dem sie mir als Priesterinn erschienen ist; und Frau Grafe behauptet vor diesen Fremden ein schöneres Stück Philosophie gelernt zu haben, als Sie und van Guden mir jemals mittheilten. Es war die Frage von Tadel und Verläumdung, welche so vieles[276] Misvergnügen über unsere besten Tage verbreiten. Die Fremde sprach: diese Gewalt lasse ich bösen Menschen nicht. Einmal suche ich Fehler zu vermeiden, um innerlich mit mir zufrieden zu seyn, und dann gönne ich ihnen großmüthig die Freude mich zu tadeln, ohne mir Haß und Rache dagegen zu erlauben; dadurch erhalte ich meine Ruhe und meine Menschenliebe unverletzt. Das ist aber sehr schwer! sagte jemand mit dem Lächlen des Zweiflens. Sie haben recht erwiederte sie: aber es ist schön, etwas schweres zu versuchen. Jeder Schritt zu einer Anhöhe ist beschwerlich, aber man wird auch belohnt. Sie hassen also nicht so sehr, als sie lieben können? Nein! denn ich achte es für eine eben so große Pflicht, Fehler zu vergeben, als Tugenden zu lieben. Ja! aber, wenn man sie übel beurtheilt, ihren guten Namen, ihre Ruhe und ihr Wohlseyn unterbricht, was thun sie da? sagte einer der zwey Fremden. Ich verwahre mich gegen den Schaden ohne dem Beleidiger weh zu thun. Sie wissen meine Grundsätze darüber, denen ich getreu seyn werde. Verschiedene Denkungsart bringt immer Entfernung in den Gemüthern hervor, und was mich gleichgültig macht, kann das[277] Herz eines andern zum Haß bewegen, wenn ich ihn nur nicht verdiene, wie der edle Amerikaner sagte: »den Schmerz, den sie mich fühlen machen, soll durch mich niemand fühlen.« und vergesse alles; denn was würde aus dem Leben guter Menschen werden, die den Tag über an Verläumder und Feinde und die Nacht an Gespenster und Diebe dächten. So lang ich wache sind meine Kinder, meine Arbeit, meine Freunde, Bücher, Ideen von Schönen und Guten in der Welt, vom Wohl, das die Vorsicht mich geniessen läßt, wechselsweise in meinem Kopfe und Herzen. Des Nachts freut wich die Ruhe und Stille der Natur, und die von meinem Zimmer und meiner Seele. Ich danke und bitte für mich und die Meinigen und wünsche allen alles Gute, was sie bedürfen, und so fassen sich meine Stunden bey der Hand bis die letzte mit Lächeln den Reihen unterbrechen wird, und (sagte sie zu den nemlichen fremden Manne,) die letzte Stunde kann nicht lächeln, wenn sie uns mit dem Andenken des Hasses und der Beleidigungen unsers Nächsten erscheint. Sie küßte dann mit einer Thräne im Auge, einen aus Haaren geflochtenen Ring. Gutes thun und Gutes glauben[278] will ich, Julie, bis ich dich sehe, um der Freundschaft deiner edlen Seele werth zu bleiben. Sie können denken, daß ich sie hier aufmerksam anblickte, und sanft sagte ich, mich gegen sie biegend: darf ich den Ring sehen, der ihnen so werth ist? Gern! aber nicht anrühren. Er ist Reliquie und die ganze Erde hat nichts ähnliches mehr. Dann erzählte sie mir von einer schweizerischen Dame, deren Tod sie seit einem Jahr beweint, und durch ihre innige Liebe und Verehrung für diese ausserordentliche Person macht sie sich selbst hochachtungswürdig.

Diese Dame hieß Julie Bondeli, ein, wie die Fremde sagt, für alle, die sie kannten, heiliger, geliebter Name, weil er ihnen Größe des Geistes und der Seele in einem Bilde darstellt. Kenntnisse, Tugend und jeder Reiz des Verstandes und der Güte lagen in ihr vereint.

Sie gab uns dann Briefe von ihr zu lesen. O meine Mariane! diese Freundin hätten Sie haben, Sie kennen sollen. Unsere Männer bewunderten den Scharfsinn ihrer Einsichten, die Richtigkeit ihrer Urtheile und Ausdrücke, neben der schönen Schreibart. Ihre Feder hat alle Grazie ihres Geschlechts und ihr Geist alle[279] Stärke des unsern, sagte Cleberg. Die Frewde lächelte vergnügt, und erwiederte: Sie sind sehr nah bey dem Gedanken von J. J. Rousseau, der meine verewigte Freundin kannte und zu schätzen wußte. Dieser sagte von ihr: »daß sie zwey der seltensten Vorzüge in sich vereinige: unsers Leibnitz Geist und Voltairs Feder.« Mariane! unsere Männer alle zuckten zurück, so wie es bey jähen Einfällen eines Lichtstrals auf unsere Augen geschieht, und mein Cleberg hatte nach Frau Grafens Vermuthung die Miene, als ob er das, was er gesagt, zurück haben möchte. Vielleicht thu ich ihn Unrecht; (fuhr sie fort) aber ich habe manchmal bemerkt, daß Eitelkeit uns an den Gedanken eines grossen Mannes anschliessen, und dann ists bey andern ein Stück Stolz, wie ihr Cleberg hat, der uns lieber schweigen heißt, als einen guten Gedanken mit einem andern zu theilen. Diese Bemerkung mag richtig seyn; aber sie mißfiel mir. Vielleicht, weil sie den Mann traf, dessen Namen ich trage. Die Fremde hatte während unserm Flüstern noch einige Briefe aufgesucht, die dann vorgelesen wurden. Und gewiß, alle Feinheit des Gefühls und Geschmacks liegt darinnen. Die Fremde sog, mit[280] Entzücken und Wehmuth im Auge, die Lobsprüche ein, die wir ihrer Freundin gaben. Sie sagte aber dabey: O, wie viel mehr als dieß, war die Güte, Sanftmuth und Menschenfreundlichkeit ihrer Seele. Wir wünschten alle, daß diese Briefe gedruckt werden möchten. Aber der edlen Todten zuweit getriebene Bescheidenheit verbot es. So, wie sie alle Briefe und Papiere verbrannte, die sie von Freunden erhalten, oder selbst aufgesetzt hatte. Es ist gewiß schön, so lieben zu können wie diese Frau; gewiß glücklich, eine Julie Bondeli zu seiner Freundin gehabt zu haben, und für mich ist es immer wahr, daß, wenn in den besten Stunden unsers Lebens, das, durch Unterricht und Nachdenken erhaltene Bild der Weisheit und Tugend von uns tritt, wir immer die Arme darnach ausstrecken und wünschen ihn ähnlich zu seyn, weil wir fühlen, daß Einigkeit in ihm liegt. In diesen Stunden machen wir unserm göttlichen Urheber Ehre, und empfinden, daß wir für unsterbliches Glück und für die Tugend geschaffen sind. Jede Faser unsers Herzens ist dann Bestreben nach edlen Thaten. Wir empfinden Willen und Kräfte dazu; freylich erlöschen und verschwinden diese[281] Vorstellungen wieder, aber sie zeigen sich mit Macht, wenn wir in irgend einer Geschichte, oder in einem lebenden Menschen; einige von den Eigenschaften erblicken, die wir in seligen Stunden uns selbst wünschten, und gewiß, wer edle gute Menschen herzlich lieben kann, ist ganz nahe dabey, selbst so zu werden. Ich denke also in meiner Neigung für diese Fremde nicht zu irren, und es freuete sie, als ich ihre Julie mit ihr beweinte.

Cleberg und Ott behaupten, daß unsere Julie, seit diesem Tage einen geheimen Stolz auf ihren Namen hätte, und sie will, daß ihr nähestes Mädchen Julie Bondeli getauft werden soll. Mir sagte sie: Dann wird Latten finden, daß ich noch mehr Engländerin bin, als du, weil diese ihren Kindern so gar die Familiennamen ihrer geliebten Freunde geben. Das jüngere Frauenzimmer war eine artige Brunette, niedlich gebaut, hatte schöne schwarze Augen und war voll Verstand und Empfindung. Sie hat unschuldige Munterkeit wie ein Kind, ob sie schon mit drey und zwanzig Jahren selbst schon Mutter von drey Kindern ist. Cleberg sprach gern mit ihr, weil sie ihm voller Witz zu seyn schien; aber er fand mehr, wie er sagt; da[282] jede Liebenswürdigkeit blühend und ungekünstelt in ihr ist, wie die Insel Finian von dem Genius der Natur, ohne Ordnung und Scheerschnitt des Gesuchtens, Pflanzens und Formens angenehmer Gestalt, Blumen und Früchte von selbst tragend; hie und da nur bemerke man Spuren, von gleichsam zufälliger Aussaat durch Menschen Hand, die in dem vortreflichen Grund leicht zur Vollkommenheit anwuchsen. Sie erzählt allerliebst und war mit so viel zärtlicher Achtsamkeit um unsern Kahnberg herum, dessen Blindseyn sie äusserst rührte. Sie freute sich auch so treuherzig ihren schätzbaren Mann wieder zu sehen, sprach so gern von jeder guten Eigenschaft die er besitzt, von seiner Liebe für sie, von ihren Kindern, so daß sie uns auch dadurch unendlich lieb wurde.

Sie waren alle vier Tage mit uns zu Rehberg und dies sind wirklich Göttertage für mich gewesen. Denken sie sich den Hausherrn und Frau, die Callen, die Kahnberge, Otten, der herrliche Rath Franke, unserer Grafe Bruder und feine artige Frau, wir Cleberge und meinen Oheim; dieser und mein Mann freuten sich ungemein über die Erneuerung vieler halb erloschenen Bilder, die ihnen durch diese wieder[283] fremde vorkamen; wie sie auch durch Nachrichten ganz kurz entstandener Ideen und Sachen Schriftsteller und Arbeiter in dem Gebieth der Wissenschaften und Künste, die sie auf ihrer Reise sahen, unserer Kenntnisse bereicherten. Wir haben auch durch sie eine große Liste von Büchern und Kupferstichen, Namen von Kaufleuten und Fabrikanten, wo schöne und artige Sachen neuer Erfindung zu haben sind, erhalten. Unsere Männer lieben alle dieß, und haben nun viel Stoff zu neuen belebten Unterredungen, über Mechanik, Musik und andern Künsten, woraus wir Weiber auch Nutzen für unsern Kopf ziehen und dadurch unser Leben verschönern.

Für mich war dieser Aufenthalt noch viel mehr als für die andern; weil er die ersten reizenden Tage in mein Gedächtnis zurück rief, die ich in Redberg verlebt habe. Der vortrefliche Pfarrer lebt nicht mehr, durch den ich Henriette von Effen kennen lernte; aber sein jüngerer Bruder hat die Stelle, und die Einwohner von Effenhofen sind durch Herr T. sehr glücklich, sagte Herr Callen, dessen Gut hier in Rehberg liegt. Mein Mann ließ mich nicht nach Effenhofen gehen, weil er mich von starken Gemüthsbewegungen[284] bewahren will. Hier genießt man Frühlings- und Herbstaussichten besser als in Seedorf. Das Schloß liegt auf einem Berg, das Dorf an der Anhöhe desselben. Da ist im Frühjahr, die verschiedene Blüte der Obstbäume und jetzo die vielerley Farben der absterbenden Blätter, das welkende Grün der Wiesen und die noch frisch aussehende Tannen dagegen ein sehr angenehmer Anblick. Der Zufall hatte mich und die Ottens gerad in die Zimmer gegen das Thal angewiesen, wo wir zweymal während dem starken Nebel, der in dem Thal lag, und dem heitern Himmel mit Sonnenschein auf dem Berg, uns vorstellten, als ob wir von einem Felsengebäude das Meer betrachteten und eine Idee seiner Unermeßlichkeit, war vor uns. Unsere Männer Ott und Cleberg erzählten uns dabey von ihren Seereisen, und es ist wohl in langer Zeit nicht bey einem Frühstück und Aussicht auf Nebel so viel Nutzen und Vergnügen genossen worden, als die zwey Tage. Adieu, Beste, Theuerste![285]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 3, Altenburg 1797, S. 274-286.
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