Sechs und vierzigster Brief

[295] Von Ott führte heute Nachmittag Julien und mich zu seiner Tante, die an dem äußersten Ende der offenen Vorstadt wohnt, und aus deren Hausgarten man gleich auf das Feld gehen kann. Madame G** kam nicht mit, weil die melancholische Empfindsamkeit dieses Frauenzimmers nicht den geringsten Ton des Schmerzens erträgt, und selbst ihr Neffe, den sie doch innig liebt, nicht oft zu ihr kommen darf, weil alle Stunden des Tages in Arbeits- und Andachtsübungen eingetheilt sind, und sie überhaupt mit niemand lebt, als einer Schulmeister-Wittwe und deren Tochter, die sie im Hause hat, und in Tisch und Wohnung unterhält; die hingegen beyde mit ihr das ganze Jahr für Arme Strümpfe stricken, Hemden und Hauben nähen helfen müssen; indem, wie sie sagt, das Gebet und ruhige Gutthätigkeit an Arme, der einzige Trost gewesen sey, den sie in den Bekümmernissen ihres Herzens gefunden habe.[295]

Ehe Ott uns hinführte, hatte Madame G** ein Paarmal über sein ernsthaftes Aussehen gelacht und dabey gesagt, es wäre das Gesicht, welches er bey seiner Tante H** geholt hätte. Julie fragte ihn da über die eigentliche Ursache der Einsamkeit dieser Tante, und er erzählte uns, daß sie die älteste Schwester seiner seligen Mutter wäre, die als Zwilling mit seinem in Venedig verstorbenen Oheim auf die Welt gekommen; darüber aber seine Großmutter das Leben verloren hätte, und vor ihrem Tode diese zwey Kinder der Liebe und Sorge ihrer ältesten achtzehnjährigen Tochter anempfohlen habe. Diese hätte auch jede mütterliche Treue an beyden bewiesen, und sie zu den liebenswürdigsten und artigsten jungen Leuten gemacht; das Vermögen mit der größten Vorsicht verwaltet; endlich seine Mutter glücklich verheyrathet, und seinen Oheim auf Reisen geschickt, an dem sie, von seinem achtzehnten Jahre an, eine vorzügliche Neigung für ein holdseliges sanftes Mädchen beobachtet hatte, welches die Tochter einer ihrer Freundinnen war. Als er mit zwanzig Jahren seine Reisen antrat, hatte sie die junge Eufrosine zum Frühstück[296] geladen, und diese mußte ihn eine selbst gestickte Brieftasche zum Geschenk auf die Reise mitgeben, und auf das erste Blatt schreiben: »Treue Freundschaft und Unschuld werden alle Tage für Ihr Wohlergehen beten!« –

Eufrosine war just sechzehn Jahr, und in der feinsten Blüthe der Schönheit, einsam erzogen; um so stärker war jede Neigung der Zärtlichkeit in ihrer Seele. Meine Tante wollte ihrem Bruder durch Eufrosinens Bild eine Schutzwehr um sein Herz legen, daher hatte sie veranstaltet, daß den letzten Morgen niemand anders da war, als sie beyde. Sie wußte wohl, daß ihr Bild den Eindruck von Eufrosinen nicht verdringen würde. Sie hatte auch gut gerechnet, denn mein Oheim nahm sie noch auf die Seite und bat sie mit wenig Worten: wenn es möglich wäre, das reizende Mädchen für ihn aufzuheben! Meine Tante versprach ihm, alles zu thun, diesen Wunsch seines Herzens zu erfüllen. Bruder und Schwester umarmten sich und nahmen mit vielen Thränen Abschied. Die holde Eufrosine weinte sympathetisch mit, mein Onkel küßte ihre Hände und bat sie, ihren Vetter Heinrich nicht zu vergessen. Sie versicherte ihn, mit[297] schluchzender Stimme, »daß sie gewiß immer an ihn denken würde.« Mein Onkel reisete vier Jahr lang, vergaß aber Eufrosinen nicht; besonders aber erkundigte er sich bey meiner Tante, ob sie wohl mit ihm nach Venedig ziehen würde, weil er dort sein Glück zu befestigen hofte. Alles war versichert, denn meine Tante hatte Eufrosinens Herz und den Willen ihrer Eltern nach den Wünschen ihres Bruders gelenkt, der als ein schöner liebenswürdiger Mann zurück kam, und seine Eufrosine nicht nur mit der edelsten jungfräulichen Gestalt und Anmuth, sondern auch mit jeder Tugend und weiblichen Geschicklichkeit begabt, antraf. Ihre, durch meine Tante in der Stille genährte Liebe für ihn, und die seinige für sie, wurde durch ihr beyderseitiges Verdienst zu der feurigsten Zärtlichkeit erhöht. Er hatte aus Venedig einen Portraitmahler mitgebracht, allein in der Absicht, den Eltern seiner Braut ein recht gutes Bild von ihr zurück zu lassen. Und da er sie einmal des Morgens in ihrem Zimmer besuchte, just da ihr Mädchen ihre wunderschöne blonden Haare auskämmte, und Eufrosine etwas in ihr Tagebuch schrieb, so ließ er sie für sich in dieser Stellung[298] mahlen. (Sie sollen das Bild bey meiner Tante sehen.) Alle Anstalten zu der Verheyrathung wurden gemacht; und da beyde Liebende das Fest ihres Glücks ohne Geräusch zu feyren wünschten, so wurde die Zeit der Badekur, die Eufrosinens Mutter alle Jahre zu gebrauchen pflegte, dazu bestimmt. Die Braut zog mit ihrer Mutter ins Bad, das zwey Stunden von der Stadt, nahe an einem Walde liegt. Mein Onkel ging ab und zu, weil er sich die Freude machte, während ihrer Abwesenheit eine Menge artiger Sachen in den Zimmern seiner künftigen Frau anzuschaffen, die sie nach ihrer Heyrath da finden sollte. Den Abend vor der Trauung, die auf einem benachbarten Dorfe in der Stille geschehen sollte, ging mein guter Onkel in die Stadt, um meine Eltern und Tante Abends mit sich hinaus zu nehmen, damit sie Morgens als Zeugen seiner Verbindung da seyn möchten; und, um die übrigen Badegäste nichts argwöhnen zu lassen, gingen Eufrosinens Eltern mit ihr, auf Einladung der Gesellschaft, in den Wald spatzieren. – Das edle, sanftliebende Geschöpf fühlte sich von den lärmenden Unterredungen des Haufens belästigt; sie wünschte, allein ihrem[299] Herzen und Nachdenken überlassen zu seyn; verlohr sich daher, sobald sie konnte, ins Gebüsch; und da sie vor dem Spatziergange ihrer Mutter gesagt hatte, daß sie so gerne zu Hause bliebe, so dachte diese, als man Eufrosinen vermißte, sie wäre heimlich zurück, und sagte es auch ihrem Mann. Der Abend war schön. Man hielt sich lang' auf, eh' man zurück gieng, und der Zufall wollte, daß des guten Kindes Eltern mit dieser Zögerung zufrieden waren, weil sie glaubten, ihre lieben Gäste aus der Stadt könnten noch zum Nachtessen zurecht kommen. Man kam nach Haus; es wurde nach Eufrosinen gefragt, sie war aber nicht da. Alle Zimmer wurden durchsucht, alle Leute gefragt: niemand hatte sie gesehen und nirgends fand man sie. Ihre Mutter glaubte, sie müsse auf dem Wege nach der Stadt gegangen seyn, und man schickte ein Paar Leute hin, die liefen so weit, bis sie der Kutsche begegneten, worinn mein Onkel war. Hier fragten sie eilig an, ob das Frauenzimmer bey ihnen wäre? »Was für ein Frauenzimmer?« sagte mein Onkel. »Ihre Braut, mein Herr! Sie ist seit dem Spatziergange im Walde nirgends zu finden,[300] und wir dachten, sie wär' Ihnen entgegen gegangen!«

Urtheilen Sie von dem Schrecken meines Onkels! Er setzte sich gleich auf eines der Pferde, und jagte ins Bad, erkundigte sich nach den Umständen, und vermuthete, daß sie im Walde verirrt seyn müsse. Bot große Summen Geldes für alle, die sich zum Aufsuchen vorthaten; ließ Strohfackeln machen, und eilte zuerst, mit einer großen Wachsfackel, dem Walde zu, wo er mit ängstlicher Stimme nach Eufrosinen rufte. Mein Vater, der Bademeister, und der Arzt, betrieben den Fortgang der Leute, die zum Nachsuchen bestellt waren. Meine Mutter blieb bey Eufrosinen ihrer. Aber meine gute Tante wollte ohne Einreden mit nach dem Walde. Sie hatte auch das traurige Glück, Morgens um drey Uhr, das liebe englische Mädchen zuerst zu erblicken, die mit allen Kräften durch verwachsene Bäume durchzudringen suchte, und einen hohlen wilden Schrey dabey ausstieß. Zwey Männer, die bey meiner Tante waten, eilten zu ihr, und diese mit der Fackel nach. Die arme Eufrosine drückte die Augen zu, schrie und sträubte sich erbärmlich. Die[301] Männer trugen sie meiner Tante zu, die über den jämmerlichen Anblick des lieben Mädchens in Ohnmacht fiel. Eine Viertelstunde darauf kam mein Onkel dahin, weil er rufen gehört hatte: »Wir haben sie!« Aber wie fand er seine Eufrosine? Ihrer Sinne beraubt. Gesicht, Brust und Hände zerrissen und blutend! Nichts auf dem Kopfe; ihre schönen Haare verwirrt und eine Menge ausgerauft; einen heischern Schrey, der furchtsam aus dem Munde kam, den vorher die sanfteste Stimme beseelte! Der äußerste Grad von Schmerz und Verzweiflung zerriß sein Herz. Er warf sich auf die Erde zu ihr, wo man sie sitzend hielte, und meine Tante, die sich erholt hatte, das Blut von ihrem Gesicht wischte. Der Arzt und mein Vater kamen auch. Mein armer Onkel bat den Ersten auf seinen Knien, ihr zu helfen. Sie ward ins Haus gebracht, ihre Wunden besorgt, und alles Mögliche zu Wiederherstellung ihrer Vernunft gebraucht. Aber sie war unwiederbringlich verlohren! Große Aerzte wurden zu Rath gezogen, die alle sagten, daß der höchste Grad ihrer Angst bey Erblickung der Fackeln müsse entstanden seyn, weil sie immer, wenn ein Licht ins Zimmer[302] kam, in Anfälle von Zittern, und ein die Seele durchdringendes Rufen nach meinen Onkel gerieth, der vier Monat lang neben ihrem Zimmer wohnte, und sein eigenes Leben über ihren hofnungslosen Zustand verseufzte. Wenn sie aus Mattigkeit schlief, kniete er neben dem Bette, küßte ihre Hände, stund auf, rang die seinigen mit Thränen des bittersten Grams, legte auch oft seinen Kopf neben dem ihrigen. Er wollte, ungeachtet ihres Zustandes, mit ihr getraut werden, um sie immer selbst zu besorgen; und man hatte Mühe, ihn darüber eine Verzögerung eines Monats einzureden. Ihr Wahnsinn wurde etwas sanfter; aber sie zehrte sichtbar ab. Zehn Tage vor ihrem Tode hofte man ihre Genesung, weil sie wieder mehr Worte aussprach, indem sie Augen und Arme gen Himmel erhob, und deutlich sagte: »Ach, Gott! es ist so spät, und Heinrich noch nicht da!« Eine nicht zu dämpfende brennende Hitze trocknete sie aus. Zwey Tage lang war nicht mehr so viel Feuchtigkeit in ihren Augen, daß sich die Deckel schließen konnten, und kaum konnte sie tropfenweis eine Erquickung niederschlucken. Mein Onkel war bedaurungswürdiger als sie.[303] Jeder Augenblick seines Lebens war Marter! Als der Arzt versicherte, daß ihr Leiden bald durch den Tod enden würde, betrachtete mein Onkel sie noch mit alle dem Gefühl seiner Liebe; bog sich über sie hin: »Eufrosine, meine Braut! dem Grabe muß ich Dich lassen! der Tag, wo Du mein werden solltest, war der Anfang Deines Todes!« – Ein Strom von Thränen floß aus seinen Augen; aber er und alle behaupteten, daß in dem nehmlichen Augenblicke die ihrigen eine Bewegung gemacht hätten, ja, daß ein Zug von Lächeln über ihr Gesicht gegangen sey. Mein Onkel ward entzückt. Er umarmte und küßte sie; aber, einige Minuten darauf war sie todt. Hier sagte er mit Stammlen: »Eufrosine! Dein letzter Blick war mein! Du bist die erste und einzige Liebe meines Herzens gewesen, Du sollst es noch im Grabe seyn, und bald, bald wird mich die Vorsicht, die Dich mir nahm, Dir wieder geben!« –

Er reisete fort, nachdem er nur ihr Bildniß und die Kleider, die sie zuletzt getragen, zu sich genommen hatte. Meine gute Tante, die für die arme Eufrosine und für meinen Onkel zugleich gesorgt hatte, wurde kränkelnd,[304] und blieb immer traurig. Einige Jahre darauf starb meine Mutter, und mein Onkel kurz hernach, der meiner Tante sein ganzes Vermögen zu ihrem Genuß zurück ließ, von dem sie den Ueberrest mir verlassen möchte. Der Gedanke des Unglücks, das ihren rechtschaffenen Bruder und seine tugendhafte Braut betroffen; der frühe Tod meiner Mutter; die Zerstörung aller, so vieljähriger Mühe, für das Wohl ihrer zwey Geschwister, haben ihren Geist und Herz eigentlich gequetscht, und sie ist wie Jemand, der unter dem Druck einer Presse Athem holen müßte. Aber gewiß, meine Freundinnen, es ist eine ehrwürdige Alte, die für mich Ueberrest eines der Tagend gewidmeten Tempels ist, den ich mich mit Ehrfurcht und Liebe nähere. –

Sie können denken, meine Mariane! daß Julie und ich bey den Thränen, die wir bey Eufrosinens Elend weinten, in die ganze Stimmung kamen, die die ernste Schwermuth des Frauenzimmers erfoderte. – Sie empfing uns sehr artig, betrachtete aber uns zwey Mädchen mit einer Gattung von Tiefsinn. Ott stellte ihr Julien als seine Braut[305] vor, welches sie mit ziemlicher Ruh in ihrer Miene anhörte. Wie ihr aber Julie die Hand, als ihre Nichte küssen wollte, umarmte sie sie, lehnte ihren Kopf auf Juliens ihren, und stille Thränen flossen über ihre ehrwürdige, aber blasse Wangen hinab. Wir waren alle ruhig. Nach wenigen Minuten richtete sie sich auf, nahm Ottens und Juliens Hände, legte sie zusammen mit einem innigen: »Gott segne Euch! und gebe dir, lieber Nepote, alles Glück, so sich Dein Onkel von seiner Braut versprechen konnte, wenn –« Hier weinte sie wieder, faltete aber ihre Hände und blickte gen Himmel: »Ich murre nicht! göttliche Hand! Ich murre nicht! Du hast sie ewig glücklich gemacht! Meine Thränen sind nur Erinnerung der Liebe.« – Wir schwiegen nach Ottens Beyspiel immer, wie er uns auch zuwinkte. Nachdem faßte sie sich ganz und führte uns in das Zimmer wo die Bildnisse von Eufrosinen und ihrem Bräutigam waren. Sie wies Julien das letztere und fragte sie: Ob nicht ihr Ott das Ebenbild seines Onkels sey? Wir fanden es alle. Julie sagte: Es freue sie sehr, daß er diesem rechtschaffenen Mann gleiche. »Er hat auch sein[306] Herz, liebe Nichte; und dafür danken Sie Gott; denn Sie werden dadurch eine sehr glückliche Frau werden!« –

Ich hatte indessen meine Augen auf Eufrosinens Bild geheftet, das in Lebensgröße und vortreflich gemahlt ist. Ein Zimmer mit hellbraunem Tafelwerk; durch ein großes Fenster fällt das Licht auf Eufrosinens Figur, die auf einem Stuhl ohne Lehne sitzt; ihre Kleidung ist reine weiße Leinwand, Rock und Corset, in welchem ihre schlanke Gestalt sehr schön ausgezeichnet ist. Ihre schöne Brust feinen Nacken und einen Arm sicht man von der Seite ganz. Rückwärts steht ein Aufwartmädchen etwas entfernt, die mit einer Hand die langen blonden Haare, und in der andern einen Kamm hält, aber auch, wie Eufrosine den Kopf gegen die Thür wendet, die eben aufgemacht worden. Eufrosinens Gesicht ist das allerschönste Oval, mit der feinsten Farbe einer Blondine. Eine niedlich gebogene Nase, ein kleiner Mund, der mit süsser Liebe lächelt; große blaue Augen, in welchen der Ausdruck himmlischer Sanftmuth ruht; die edelste Form der Stirne und des Hauptes. Mit dem freyen Arme zieht sie das blaue[307] Band ihres Corsets über ihre Brust, als ob sie sie schaamhaft damit in etwas decken wollte, der andre liegt mit einem Theil auf dem Tische, auf welchem ein Spiegel, ein Körbchen mit Blumen, Perlenschnüre und ein klein Tintenfaß steht. Noch mit der Feder liegt ihre rechte Hand auf dem Blatte eines kleinen Hefts Papier, worauf sie schrieb: »Tugend sey immer die Schönheit meiner Seele, und Heinrichs Liebe mein Glück!«

Die vollkommne und still reizende Schönheit des Bildes, die Erinnerung des grausamen Schicksals dieses holden Geschöpfs, füllte mein Auge mit Thränen Die Tante drückte meine Hand und sagte mit Seufzen: »Ach! sie verdient die Zähren jeder guten Seele. Denken Sie, was ich gelitten habe, wie ich den Engel, so elend zugerichtet, vier Monat lang leiden und endlich sterben sah! – Liebe, süsse Eufrosine!« sagte sie und küßte den Arm des Bildes gab dann Otten die Hand: »Ich danke Dir, daß Du den zwey wackern Frauenzimmern von Deinem Onkel und Deinen Tanten so gut geredt hast!« – Dann wies sie uns das Bild von Ottens Mutter. Erzählte von ihr, und versicherte Julien,[308] sie würde eine liebenswerthe Schwiegermutter gehabt haben. »Ich will Sie dafür ansehen« sagte Julie. »Es würde mich vergnügen, meine Liebe, wenn ich nicht allen Entwürfen von Freude entsagt hätte! Ich nehme jetzt von einem Tage zum andern, was mir Gott zuweiset.« – Hierauf gab sie uns ein recht artiges Abendbrod, und ging, nachdem sie die Wittwe und deren Tochter hatte rufen lassen, einige Augenblicke von uns, und band, bey dem Wiederkommen, Julien eine schöne Schnur orientalischer Perlen um den Hals, nebst einer sechsfachen Reihe von nämlicher Größe um die Hände, wobey sie auf Eufrosinens Bild wies: »Es sind die nemlichen, die darauf gemahlt sind. Mein Bruder hatte sie mir gelassen.« –

Wie es etwas später wurde und wir gehen wollten, fiel Otten ein, daß es Mondlicht wäre, wir wollten bey dem schönen Abend um die Stadt herum bey dem Einlaßthor nach Hause gehen, und indessen noch einige Zeit in der Tante Garten uns aufhalten. Das war ihr ganz Recht, und sie wies uns ihre liebe Einsiedeley, wie sie es nennte. Im Gehen wandte sie sich ungefehr um, und betrachtete[309] dann den Schatten ihrer Figur, mit einer etwas ernsten Miene. Ott nahm ihre Hand: »Liebe Tante, auf was sehen Sie?« – »Hier auf meinen Schatten; er dünkt mich das traurige Bild meines vergangnen Lebens zu seyn.« – »Aber sehen Sie nur, alle unsere Schatten sind so.« – »O, nein! der Umriß von den Eurigen zeigt die Frölichkeit Eurer Gebehrden und Eures Muths, so wie der meinige ein gebrochenes Herz und wankendes Leben anzeigt.« – Julie fiel hier recht liebenswürdig ein: »Ja, liebe Tante! Ihr zurückliegender Schatten sieht düster und jammernd aus, aber vor Ihnen sieht es helle. Ihre Brust wird von himmlischen Strahlen beleuchtet.« – Die Tante streichelte Juliens Backen: »Trostengel,« sagte sie, »Gott lasse Dich allezeit einen so erquickenden Gedanken für die trüben Tage Deines Ott finden!« – Wir küßten ihr alle drey, ungeachtet ihres Widerstands, die Hände. Sie segnete uns, und versprach für unser Wohl zu beten. Und nun gingen wir langsam, in uns gekehrt, den einsamen Weg hin. Als wir in die Allee kamen, deren Bäume schon meist entlaubt waren, schien der[310] Mond zwischen den Seitenhecken durch, und gab den gelben, auf den weißen Kieß zerstreuten, Blättern eine sanfte Farbe. Ott, der uns führte, blieb nach langem Schweigen stehen, sah uns beyde an: »Wie schön sind auch kühle Herbstabende, wenn man sie mit Liebe und Freundschaft genießt!« – Julie sprach: »Lieber Ott! ich denke, jeder Abend ist schön, wenn man den Tag mit der Tugend verlebt hat, wie wir heute gethan haben! Und, bey Ihrer daurenden Liebe wird mir auch der Herbst des Lebens, bey verwelkten Freuden, angenehm seyn!« – »Meine theure, schätzbare Julie,« sagte er mit Entzücken, »Ihre Tugend wird die welkenden Freuden unsers Lebens mit einem so sanften Lichte verschönern, wie der Mond diese abgefallene Blätter vor unsern Füßen färbt.« –

Dieses Gespräch war mir traurig süß. Denn ich konnte mich des aufsteigenden Wunsches nicht enthalten: »Ach, wenn der Geliebte meiner Seele hier wäre, und die Ruhe der Erde, und die alles Leiden besänftigende Strahlen des Mondes mit mir sähe! Wenn[311] ich in dem Ausdruck seiner geistvollen Physiognomie den nemlichen Grad von Liebe erblickte, die Julie in Otten siehet! Denn gewiß, meine Zärtlichkeit ist wie ihre!« –

So kamen wir nach Hause, voll seligen Tiefsinns, der die Tugend lieben macht.[312]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 295-313.
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