Sieben und vierzigster Brief

[313] Es ist gut, meine Mariane! es ist wohlthätig vom Schicksal, wenn es uns die Erfüllung kleiner Wünsche versagt, weil wir dadurch die freudigen und vergnügten Empfindungen der Seele versplittert genössen, und den erhabenen Reiz des großen Guten nicht mehr nach seinem ganzen Umfange fassen würden!

Schon lange begehrte mein Herz von der Vorsicht eine Erscheinung aus der schönen alten Welt, wo der Freundschaft, die sich zum Besten des Freundes aufopfert, Altäre gebaut wurden, und wo diese Bewegung der menschlichen Seele höher geschätzt war, als Liebe, weil sie edlere und schönere Thaten vor sich hat und hervorbrachte. Durch Sie, Mariane, bin ich mit jedem sanften, einnehmenden Zuge der weiblichen Freundschaft bekannt geworden. Sie haben alles für mich gethan, was Ihr edles Herz nach den Erfordernissen des meinigen thun konnte. Es giebt aber Fälle, in denen die Verfassung der bürgerlichen[313] Ordnung des Lebens unsere Neigungen beschränkt; so, daß sie nicht zu Handlungen werden können, und wo allein die Männer das große Vorrecht haben, von der Bewegung zum Entschluß, und von diesem zur That zu gehen. – Der Zufall, welcher gewiß, im Ganzen genommen, eine ungleich größere Anzahl guter, als schlimmer Sachen veranlaßt, hat mich vor zween Tagen auf den Platz gestellt, wo ich diese große Verschiedenheit unsers Wirkungskreises mit der Männer ihren ganz nahe und in dem schönsten Licht sehen konnte.

Herr G** that vor einigen Tagen den Vorschlag einer kleinen Jagd, die es, als Oberbeamter in R**, zu genießen hat, und bat die Uebenswerthe Familie und den Freund der ** dazu Madame G** nahm mich mit. Das Wetter war so schön, daß wir auf vier Tage da blieben, und uns aber, wegen Mangel der Zimmer, zu zwey und zwey, in Eines lagern mußten. Madame G** war bey mir. Madame ** und ihre Tochter wieder beysammen, und sodann Herr ** und sein Freund, gleich neben uns im dritten Stocke. Herr R** mit einem andern. – Wir waren alle sehr vergnügt. Nur den[314] zweyten Tag beym Frühstück bemerkte ich, nach einer kurzen Abwesenheit der Frau G**, daß ihre Stirne bewölkt war. – Ich blickte sie daher öfters an: sie sagte wir auch mit freundlichem Drücken meiner Hand, und sanfter, als jemals ihre Stimme war: »Rosalia! Ihre Augen fragen mich was; Sie sollens wissen, mein Schatz, sobald wir allein sind, denn es drückt mich hier!« (auf ihr Herz weisend)

Es war sieben Uhr des Morgens, als ein Theil der Gesellschaft gleich nach der ersten Zerstreuung des Nebels durch die Weinberge in das kleine Haasenwäldchen wallte. Madame ** ging mit. Ihre Tochter aber in ihr Zimmer, um sich ganz anzuziehen. Meine G** auf einen Augenblick in die Küche, und ich in unser Schlafzimmer, wohin sie kam und gleich anfing: »Rosalia! was ist Ihr Oheim für ein Mann? kann er einer Frau die überfließende Güte des Herzens vergeben? wäre er fähig, ihr ein Darlehn auf etliche Jahre zu machen?« –

»Liebe, liebe Madame G**, wie hastig thun Sie mir diese Fragen; und Sie sehen ja ganz unwillig dabey aus!« –[315]

»Vors Erste, mein Kind! ist mir sehr daran gelegen, es bald zu wissen; und dann, Rosalia! weis ich, daß die meisten Menschen die Züge des edlen, gütigen, großmüthigen Betragens gegen andre freylich gern erzählen hören, es mit Vergnügen in einer Geschichte lesen, entzückt davon reden; und dann, in der Gelegenheit, es selbst zu thun, durch die edelsten Ursachen zurück treten, und es von sich lehnen; freundschaftliche Bonde darüber zerreißen; aus einem brausendkochenden Kessel voll Sentiments, auf Einmal zum Eisklotz werden! – Ja wenn ich mein eigenes Herz nicht in mir schlagen fühlte, wenn ich meine W** nicht leibhaft, mit allen ihrem schönen bittern Kummer der Seele vor mir sähe; so glaubte ich selbst, daß Edelmüthigkeit und Menschenliebe Träumereyen der Poeten wären.«

»Was für ein trauriges Bild mahlen Sie mir, liebe Madame G**! Aber, leider ist jeder Strich wahr! – Sagen Sie mir die Ursache davon.«

»Die ist kurz gesagt, Rosalia: Meine theure, wenig gekannte, und oft mißhandelte W**, deren Empfindsamkeit ganz[316] für andrer Wohl und Uebel da ist, diese befindet sich in einer Bedrängniß, nicht durch Ausgaben der wollüstigen Tafel; nicht durch Weiblichkeiten des Putzes; nein! durch den, in der Ewigkeit schönen Fehler der überfliessenden Güte, Kummer und Elend von andern zu entfernen. Dies bat sie an den Rand eines unabsehbaren Jammers geführt, wo sie allein durch das Darlehn der kleinsten Summe von – – bis nach dem Tode ihres nächsten Verwandten gerettet werden kann. Ich bin elend,« fuhr sie mit Weinen fort, »sehr elend, daß ich es nicht thun kann! Sagen Sie, Rosalia, sagen Sie, würde Ihr Oheim mich darüber hören? Würde er darüber schweigen? Wärf' er nicht die würdige Leidende, und mich, und Sie, in die Korblake, wohin die Männer, in dergleichen Gelegenheiten, mit den Guten und Tugendhaften unsers Geschlechts zufahren, ohne sich zu sagen, daß sie ja alle, oft das Zehnfache, ohne Dank, und ohne Hoffnung der Rückgabe, verschwendeten!« –

»Liebe Madame G**, wie werth, wie unendlich werth wird mir Ihr Herz durch diesen Eifer, durch diese Thränen! Ich will[317] alles bey meinem Oheim versuchen. Er ist gütig; er ist rechtschaffen, und wenn er fehlt, so schweigt er doch; und dann schreibe ich an meinen C**; dieser ist gewiß so edel empfindlich, daß er meinem Herzen, und den verdienstlichen Leiden der Madame W**, diese Gefälligkeit erweiset. Wie viel Gutes thut er ohnehin! Er wird mich nicht umsonst flehen lassen.« –

»Aber, Rosalia! reden Sie mit Ehrerbietung mit Lobe von dem Herzen meiner lieben W**« – Hier ging sie von mir, nachdem ich sie innig umarmt hatte. Die vortrefliche Frau! wie unrecht geschieht ihr, wenn man, ihrer Lebhaftigkeit wegen, an ihrer antheilnehmenden Empfindsamkeit zweifelt! – Hierauf hörte ich im Nebenzimmer auf- und abgeben. Ich wurde besorgt, weil es männliche Tritte waren, daß einer von den zwey Fremden unser Gespräch gehört haben könnte! Und es war so. Denn kurze Zeit he nach kam Herr ** mit seiner edlen Gestalt, und einer vermehrten Bescheidenheit in seiner Miene, unter die Thüre meines Zimmers getreten. Die Bekräftigung meiner Sorge über sein Zuhören, machte mich erröthen, und er sah mich[318] mit einer Verlegenheit an, die ich nicht gleich begreifen konnte. – Ich war aufgestanden, und nach einigen Blicken auf die Erde, näherte er sich mir und sagte mit rührendem, aber männlichem Tone, indem er mich zu meinem Stuhl zurück führte: »Darf ich Sie bitten mich auf einige Minuten anzuhören?« – Ich etwas unruhig: »Ja ganz gerne!« –

Er fing an: »Ich will Ihnen, würdige Vertraute der vortreflichen Frau G**, nicht verhehlen, daß der Zufall mich das wichtige Gespräch hören ließ, worinn Sie beyde die Bedrängniß einer edlen Freundinn zu beben suchten. Möchten Sie mich nicht diesen Zufall benutzen lassen, und mir das Glück gönnen, den kleinen Vorschoß zu thun, der ihre Herzen aus der Verlegenheit zöge, worinn Sie sich befinden?«

Ich war verwirrt, verwundert, und konnte nichts, als: »O Herr **« sagen. Aber seine Stimme, seine Gesichtszüge, die Stellung, in der er mir dieses Anerbieten that, war der schönste vermischte Ausdruck von Edelmuth, Sorgsamkeit, Würde für sich, und Verehrung für meine Freundinnen: so, daß[319] der Eindruck davon alle meine Empfindung zu Thränen schmelzte. Ich sah ihn an; aber Zähren träufelten über meine Wangen. Er faßte meine Hand: »O, dieß sind gewiß die edelsten weidlichen Thränen, die ich jemals sah! Aber, theure Rosalia, ich habe Sie doch nicht beleidigt? Glauben Sie, daß mein Beweggrund, mir Ihnen zu reden und das Anerbieten zu thun, Ihrer Achtung nicht unwürdig ist: ich bitte Sie! lassen Sie mich ganz in der Stille Antheil an Ihrer gerechten Freundschaft für Madame W** nehmen, und erhalten Sie mir bey Madame G** die Erlaubniß, ihr diese Summe für die gute bedrängte Frau W** zu geben. Keine Seele soll es wissen! Der Kummer der Madame W** und der antheilnehmende Schmerz von ihnen beyden soll mir heilig seyn! Nehmen Sie mich nur in diesen Bund auf.« – Ich stund auf; ich drückte mit meinen beyden Händen die seinige, mit der er mich gefaßt hatte: »Gott segne Sie, würdiger, würdiger Mann! für diese edle Verwendung Ihrer Gewalt und ihres Vermögens! aber auch für die unaussprechliche Freude, welche Ihre Edelmüthigkeit mir[320] giebt. O, wie selten, aber wie göttlich schön, sind diese Züge einer erhabenen und gütigen Seele!« –

Hier kam Frau G**. Sie blieb stutzend stehen. Ich rief ihr aber zu: »Kommen Sie, und hören die schöne Ursache meiner Thränen und der Bewegung, in der sie mich sehen!« – Ich erzählte ihr alles: sie wurde bald blaß, bald roth. Endlich aber ergriff sie auch die eine Hand des Herrn **: »Die Vorsicht hat Sie in unsern Bund gezogen. Sie erhalten den Dank der besten Herzen dabey; und gewiß, schätzbarer Mann, verlieren Sie nichts. Ihr Glaube an weibliche Tugend und Rechtschaffenheit soll Sie nicht gereuen!« – Hier vergoß sie einen Strom von Thränen. Herr** wurde davon beunruhigt. Sie bemerkte es; und da sie sich etwas erholt hatte, sagte sie ihm: Sie wäre auf Einmal durch den Gedanken hingerissen worden, daß sie erst in dem Alter von etlichen und vierzig Jahren, nach so vielen Wünschen, so vielem vergeblichen Durchlesen der Bilder von Edelmüthigkeit, einmal die Hand eines Menschen fasse, dessen Seele jede kalte steinerne Hindernisse übersteige, um[321] uneigennützig Gutes zu thun. – Sie schrieb gleich an Madame W** die ganze Geschichte, mit Uebersendung der Summe, und diese antwortete ihr mit dem höchsten Gefühl der Verehrung, des Danks und der Freude, über den geleisteten Dienst. Doch, so groß dieser wäre, so hätte er ihr dieses hohe Maaß Freude nicht geben können; aber Glück und Ruhe aus der Hand des edelsten, besten Menschen zu erhalten, wäre für sie das, was ehemals die unmittelbare Absendung eines himmlischen Geistes gewesen, und sie danke der Vorsicht für die ausgewählte Hand, wie für die Hülfe selbst! – Sagen Sie, Mariane, war ich nicht glücklich, mich mitten unter diesen drey edlen Seelen zu finden? Geist, Güte, Edelmüthigkeit, in völliger Wahrheit und Wirksamkeit zu sehen! Wie selig ist das Gefühl, welches sich in unser Herz den Augenblick ergießt, in dem wir Jemand unsere Hochachtung geben! Güte, Wohlthätigkeit allein ist und kann das Gepräge des Ebenbildes unsers Urhebers in uns seyn. Es ist auch der einzige Zug seines göttlichen Wesens, den er deutlich und begreiflich vor unsere Augen und in unsere Herzen legte.[322]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 313-323.
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