Neunter Brief

[40] Seit fünf Tagen habe ich Ihnen nicht geschrieben; bald, meine Mariane, möchte ich bey lebenden Leibe an eine Seelenwanderung glauben, und denken, daß die meinige diese Zeit über nicht bey mir war. – O, Gefälligkeit, wie viel Opfer foderst du! Bald von der Wahrheit unsrer Gedanken, bald von unsern Empfindungen; trügest du nicht die Farbe der Menschenliebe, so würde ich dich hassen!

Die Frauenzimmer im Hause, wo wir wohnen, haben mich in den Wirbel ihrer Bekanntschaften und Ergötzungen gezogen, ohne daß sie eigentlich wissen, was sie mit mir thun sollen. Das Vermögen meines Oheims, die in Deutschland so seltene Erscheinung eines reisenden Mädchens von meinem Stande, macht, glaube ich, daß mich die einen zeigen, und die andern sehen wollen; und ich, meine Mariane, bin schwach genug, meinem Widerwillen zu Trotz, Einladungen nachzugeben,[40] die mir fünf ganzer Tage die Freude rauben, mich mit Ihnen zu unterhalten! Vorgestern dachte ich einen langen Brief an Sie zu schreiben, da kam noch Morgens Herr G**. von seinem Amte, und brachte seine Frau und Schwester mit, um sie in das Concert zu führen; da wurde ich gleich dem Frauenzimmer vorgestellt, in Gespräche verwickelt, und sah mein Zimmer erst beym Schlafengehen. Sie wissen, wie feyerlich ich meinem Oheim, nach meiner Augenkrankheit, versprechen mußte, in meinem Leben des Nachts nicht mehr zu lesen und zu schreiben; ich habe mir auch ein Gesetz gemacht, dieses seiner Liebe gethane Versprechen in keiner Gelegenheit zu übertreten; also konnte ich mich auch des Nachts nicht schadlos halten; und Gestern früh kam der muntre Schwarm der drey Töchter des Hauses, zweyer Nachbarinnen, Mad. G**. und ihre Schwägerinn, mit dem Caffee in mein Zimmer; da wurde vielerley, und auch von dem Concert gesprochen. Bey dem Artikel des Putzes hofte ich ihrer los zu werden, und noch einige Minuten zu einem Briefchen an Sie zu haschen, indem ich sagte, daß ich fürchtete, nicht Zeit genug zu meinem Aufsatz[41] zu finden: aber, die rauschende Frölichkeit dieser Personen bemerkte den leisen Wink nicht, womit ich sie um Räumung meines Zimmers bat; ich mußte harren, gefällig seyn, und den Wünschen meines Herzens ihre Befriedigung auf Heute anweisen.

Mad. G**. hat die heiterste Gemüthsart, die ich jemals an einer Person meines Geschlechts gefunden habe. Verstand und viel Belesenheit. Aber, da Lustigkeit der Hauptzug ihres Charakters ist; so sind alle Wendungen ihrer Ideen drollig, und auch die Farben ihrer Beobachtungen bunt. – In dem Concert, wo eine große Menge sehr artiger Personen beyderley Geschlechts war, bemerkte ich noch einen sonderbaren Schwung, den sie manchmal ihren Gedanken giebt, indem sie mir diese Gesellschaft als das Schauspiel eines Wettstreits nennte, den die Phantasie der Mutter Natur und die Einbildungskraft ihrer Kinder gegen einander hielten: wo Erstere ihre Weisheit, Stärke und Gewalt, in Verschiedenheit der Gesichtszüge, Größe und Kleine der Gestalt, in Mannigfaltigkeit der Physiognomie und dem Ton der Stimmen bewiese –[42] die Menschen hingegen, in der Abänderung der Verzierungen, in Wahl der Farben, Form der Kleider und Kopfputz, in künstlicher Anmuth der Geberden und des Bezeigens. – Mit vieler Schalkhaftigkeit behauptete sie dieses und jenes in dem einen und andern Gesichte zu lesen; sagte darauf, da sie mich starr angesehen, daß in meinem Kopf Ideen wären, die das Seitenstück zu ihren moralischen Betrachtungen ausmachten, und daß sie, ohne anders, es im ganzen wissen wolle! Jemehr ich mich weigerte, je ungestümer foderte sie; und da ich ein übereinstimmendes Stück zu ihrem Gemählde liefern, und die Ideen von Vielfältigkeit und Menge beybehalten mußte; so sagte ich: mein Nachdenken hätte sich auf die unendliche Summe des verflossenen und gegenwärtigen Vergnügens bezogen, das unser aller liebreiche Mutter, durch Fähigkeit, zu erfinden und zu genießen, unter ihre oft so undankbare Kinder ausgetheilt habe. So hätte, zum Beweis, jede Gattung der verschiedenen Kleiderzeuge dem Arbeiter, bey dessen Endigung, ein Gefühl von Freude, über seine Geschicklichkeit gegeben; die Person, die sich mit der Schönheit des Zeugs Ansehen gab,[43] auch ihr Antheil Vergnügen dadurch erhalten; so wäre es der Putzmacherinn, bey Erfindung der Moden, dem Frauenzimmer, die ihre Reize dadurch erhöhte, dem Tonkünstler bey der Aufsetzung und Fügung der Stücke gegangen, die wir gehört hätten. – Gewiß, sagte sie, es giebt viel kleine Freuden in der Welt, über die man, wie über die Millionen Grashälmchen, hingeht, die den schönen Rasen machen. Tausend Vergnügen werden von einem Theil unsers Gefühls ohne Nachdenken genossen, und ihr Daseyn erst bemerkt, wenn man, wie bey dem Spatzierengehen, auf einmal, bey Betretung des steinigten Weges, an das sanfte Gehen auf dem Grasboden denkt.

Dieser Ton rührte mich; ich hörte ihr staunend zu, und antwortete ihr mit zärtlicher Achtung. – Sie erwiederte dieses mit einem Drücken meiner Hand, und sagte: Es freue sie, daß ich ihr Achtung beweise; sie liebte mich auch besonders, weil ich so viel Geist hätte, alles aufzufassen, und man keinen Gedanken bey mir verlöhre. – Hiemit scheuchte sie meine pünktliche Zärtlichkeit ein wenig zurück; aber ich wurde gleich wieder so billig,[44] zu finden, daß wir alle nichts lieben, als was uns Vergnügen macht, und Frau G**. so freymüthig ist, es zu sagen.

Gefällt Ihnen diese Frau nicht auch, meine Mariane? Sie macht eine eigene Farbe im Character aus. – Ich werde einige Tage mit ihr aufs Land gehen, wo ich mit mehr Freyheit, in ganz reiner Luft, beim Gesang der Lerche, an meine Mariane denken und schreiben werde.[45]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 40-46.
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