Frühlingslied

[78] Lenzwärme streift um Niederung und Hänge,

Der Früh- und Abendwind weht ohne Strenge,

Was sich an Leben regt, entstrebt dem Zwang;

Die Sonne flimmert auf Gebüsch und Hecken

Und lässt nicht nach, zu wirken und zu wecken,

Bis alles Knospendasein sich entrang.


In Kraft und Fülle will es sich ergiessen –

Nehmt hin, nehmt hin, ihr könnt euch nicht verschliessen,

In euren eignen Herzen schwillt die Saat;

Sie werden wie die Äcker stehn in Garben,

Gebt auch den Brüdern, dass sie nicht mehr darben,

Lenzlust und Frühlingsglaube werde Tat.


Denn unfruchtbare Elemente fahren

Vernichtend über das Gewächs von Jahren

Und tilgen alle Frucht bis auf den Keim;

Die Ungezählten stranden auf den Schiffen

Und scheitern in den Wellen, an den Riffen

Und fallen Rach- und Mordbegier anheim.


Die Erde beut, der Strom reisst es von hinnen:

Wir säen aus, wir planen, wir beginnen,[79]

So wie das Frühlingswetter braust und gärt –

Die ungezähmten Erdenkräfte schaffen

Und streuen aus – wir wollen nichts erraffen,

Als was der Mensch dem Menschen gern gewährt.

Quelle:
Hedwig Lachmann: Gesammelte Gedichte. Potsdam 1919, S. 78-80.
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