12. Hippolyt an Valerius.

[115] Sie haben hier in England so starre Gesetze der Religion und Moral, daß die Ausnahmen nirgends besser schmecken; und das junge Geschlecht ist hungrig und durstig; das Gesetz ist einmal der Tod für alle Jugend; wenn die Wildheit Gesetz wäre, ich glaube, wir lebten dann des Gesetzes wegen zahm.

Unter dem Kreise, mit welchem ich mich in Tollheit herumbewege, zeichnet sich mir ein Lord Henry aus, von dessen Landsitz ich Dir schreibe. Wir sind zur Jagd hier und zum Ausruhen von den Mühen des Vergnügens – über die saftgrünen weiten Hügelflächen jagen wir hin mit dem Morgenwinde, welcher den Nebel jagt, die langgestreckten Pferde weifen dahin, als hätten sie Atem und Kraft der Götter; das Wort Gefahr spricht niemand aus; wer stürzt, möge sich helfen, der Jockei und die Hunde wissen auch nichts davon. Der Körper streckt sich und prustet Frische in diesem zehrenden Klima, die Leiber sind hier lang aufgeschossen, die Hautfarbe ist klar und fein und rot behaucht, und es ist zum ersten Male, daß mir diese weißen Menschen nicht unkräftig erscheinen.

Lord Henry ist solch ein langer schmaler Engländer mit schweigendem länglich englischem Gesichte, das so schöne Ähnlichkeit mit dem Kopfe des hiesigen Pferdes hat. Er ist still und verschlossen, aber was heraustritt, ist so energisch wie ein donnernder Windstoß aus übrigens ruhender Luft, sei es Meinung, sei es Empfindung. Das ist überhaupt ein Wort Eurer Sprache, welches ich liebe, Empfindung; statt dessen sprecht Ihr immer von Gefühl; kann sein, daß ich Gefühl nicht habe, aber Empfindung hab' ich. Es soll eine vulkanische Vergangenheit unter Henrys schweigender Oberfläche und deren Geschichte ruhen, wenigstens erzählt man so; an ihm selbst ist nichts zu spüren: wenn er das Berührende[116] findet, so steigt der Anteil und Drang in ihm auf wie ein kochender, gewaltiger Strudel; wenn der Jockei ein humoristisch Verhältnis trocken schildert, so lacht er tüchtig. Er soll zu einer nahen Verwandten in früher Jugend liebend entbrannt gewesen sein und wie ein Berserker alles beiseite geworfen haben, was im Wege stand; donnerndes, blitztreffendes Durcheinander wird da erzählt – das Mädchen sei aus der Welt verschwunden, niemand wisse wohin.

Ich weiß, daß ich Dir ein Greuel bin, wenn ich diesen Punkt der Verwandtschaftsliebe anrühre; Dir ist sie ein Zivilisationsfrevel – ich habe nie Empfindungen, deren Ursprung in der Zivilisation ruhte, vielleicht hat sie kein kräftiger Mensch, der nicht auch seine Nervenspitzen bis zur Furcht und Artigkeit erzogen hat, und meine Empfindung fragt nicht danach, aus welchem Schoße das Weib stammt, welches mein Auge liebt, mein Arm begehrt. Was taten die alten Völker, wo es an Menschen fehlte? Hatten sie solche Skrupel? O nein, selbst die sanftesten nicht. Hat mein Herz nach den Listen und Tabellen der Übervölkerung zu fragen? Die Griechen brandmarkten nur die Umarmung der eigenen Mutter, jedes Volk hatte seine individuelle Idiosynkrasie, ich, der ich keinem allgemeinen, also auch keinem Volke mich füge und keiner einzelnen Sitte eines solchen, ich empfinde keine Idiosynkrasie, was gehen mich Eure Formeln an! Und ich glaube Lord Henry denkt ebenso.

Morgen machen wir eine Tour zu Pferde durch die Provinz.


Später.


Gestern vormittag kamen wir an den Ausgang eines Eichenwaldes, die Sonne spaltete den Nebel, ein stattlich Schloß lag auf dem Hügel vor uns, aus der gotischen Bauweise stammend, aber glänzend erhalten, dahinter donnerte die Meeresbrandung. Lord Henry rief einem Reitknecht zu, vorauszujagen und einen Besuch des Lord Roldan zu melden.[117] Dies ist Henrys Name nicht, ich sah ihn fragend an. »Die alte Lady da oben«, sagte er, »haßt meinen Namen und mich, ich höre es gern, wenn ein Todfeind von mir redet, ich sitze einem solchen gern einmal nahe, die Aussicht von der alten Abtei da oben soll entzückend sein, wir reiten eben vorüber, warum sollen wir nicht ein Stück Rindfleisch da oben essen? Auch soll die Lady eine schöne Tochter haben, man sagt's, denn von uns hat sie niemand gesehen, die Alte kommt seit zehn Jahren nicht nach London.«

Wir wurden in die große steinerne Halle zu Tisch geführt; ich denke hier fortwährend Walter Scotts, man sieht durch hohe Bogenfenster weit ins Meer hinaus, seitwärts auf grünes oder waldiges Bergufer. Das Schloß ruht von dieser Seite auf einem Felsen, der senkrecht aus dem Meere aufsteigt, das Wogenbrausen ist eine Tafelmusik des ewigen Elements, dessen Wellen ab und zu gehen zwischen den Erdteilen dieses Planeten.

Die alte Lady ist eine hohe, vornehme Frau, höflich wie ein Buch, nicht mehr sprechend, als die strengste Zensur einem Buche erlaubt hätte – sie kam allein, wie wir erwartet hatten; wir waren sehr artig und bescheiden und sprachen über Walter Scott und dessen Romane. Es ist reizend, wieviel unbefangen romantisches Interesse in diesen Engländern lebt: jede erfundene Person einer Geschichte, jedes Wort, das diese spricht, jede Wendung, welche die Sache nimmt, alles findet hier den freundlichsten Boden, findet und weckt den Reiz einer Geschichte. Wie arm seid Ihr dagegen! Wo nicht ein Lehrgedanke das Faktum, die Schilderung, die Begebenheit unterstützt oder gar rechtfertigt, da meint Ihr Unnützes zu treiben; das Törichte nennt Ihr Romanhaftes, darum besitzt Ihr auch den reinen Roman nicht, Ihn seid verdorben für reine, bloße Bilder, die nichts sein wollen und sein sollen als Bilder.[118]

Wir wurden eingeladen, länger zu bleiben. Abends zum Tee erschien die Tochter: schlank, fein gefärbt wie der Pfirsich, mit langen Augenlidern und reichem Haare, zurückhaltend, aber naiv, ernsthaft, mit aus der Tiefe durchschlagender Lustigkeit, kalt, aber mit durchfliegenden Spuren tiefster Innigkeit, so ist Miß Anna.


Später.


Wir sind noch immer hier. Lord Henry, der hier Engländer ist vom Scheitel bis zur Sohle, gefällt der alten Lady sehr, und Anna gefällt uns beiden, dem Lord außerordentlich. Er sieht scheel dazu, daß ich sie gern habe, ich lache seine Lordschaft aus.


Später.


Hui! wir haben erfahren, daß noch eine Dame hier ist. Gestern abend bei klarer Luft ließen wir uns auf dem Boote in der Brandung herumwerfen, wir sehen beide scharf wie Falken und entdeckten am Fenster eine schwarz gekleidete Figur, die nicht die Lady, nicht Anna war.

Ohne weiteres sagten wir's, so harmlos wie möglich, bei unserer Rückkunft der Lady. Sie sagte ja, und des Abends erschien die schwarze Dame. – Henry fuhr vom Sessel auf; Miß Mary schauerte zusammen, sie ist jene Jugendliebe. Die alte Lady scheint nichts Sicheres bemerkt zu haben bei dieser Szene.

Dies schwarz gekleidete Mädchen macht einen wunderbaren Eindruck, sie ist bleich wie Schnee, kaum der Duft roten Blutes schimmert durch diese bleichen Wangen, durch diese weißen Hände. Dunkles Haar und dunkle Augen heben wieder lebendige Grundton eines kühnen Schmerzgesanges die in schwarzen Samt gehüllte Figur. Sie ist kein junges Mädchen mehr, feine Züge des Leids schweben hin und her durch das zarte Antlitz, aber sie erhöhen die vornehme Tragik[119] der ganzen Erscheinung, ich möchte sagen: sie reizen wie das historische Kolorit eines Romans.

Du weißt, wie sehr ich die Jugendfrische des Weibes allem späteren Reize vorziehe, welche gefülltes schönes Fleisch gewähren mögen, der Trieb ist mir ein Knabe, der das Wachstum noch vor Augen hat; die Reife ist der letzte Schritt vor dem Welken, der Herbst ist magisch, des Winters Tod lauert ihm auf der Schulter; aus des vollen Leibes lockender Haut seh' ich die Falte lauschen, welche der nächste Erbe ist und nur von Unerfahrenen nicht gesehen wird. Nur die junge Form hat wirklich zeugende Kraft, gesunde Sehnsucht, echten Drang zeugende; die erfüllte Form hat eine Mattigkeit des Beendeten.

Dennoch sehe ich mit einem schönen Gefühle dies wunderbare Weib Miß Mary, ich erkenne, daß ein Zauber dahinter ruht, der so mächtig, vielleicht mächtiger sein kann, als der Zauber junger Sinneswelt, weil eine Atmosphäre darum webt, die etwas haben mag von Kraft des erfahrenen Herzens, von Kraft historischer Welt. Dessen ward ich deutlich inne, aber gefährlich ist sie mir doch nicht – Du würdest vielleicht sagen: Das ist eben dein Mangel.

Miß Mary sprach bei jenem ersten Erscheinen sehr wenig, und ihre Stimme wankte wie eine unsicher angeschlagene Harfensaite – Henry, der beherrschte Engländer, konnte nur mühsam den erregten inneren Sturm niederhalten.


Später.


Die Zeit vergeht, es geschieht äußerst wenig, und doch ist das Wort Langeweile ganz unbekannt, wir sind alle tief und rastlos bewegt, es drängen und murmeln tiefe Meeresströme unter den innersten Räumen unserer Welt, wie sie in der Wirklichkeit unten am Felsenabhange wühlen.[120]

Wir sind alle wie im halben Somnambulismus: die Lady ahnt unklar Gefährliches, aber sie weiß nichts und wehrt in keiner Weise, und liebt Henry; Anna liebt ihn wahrscheinlich auch, und über Miß Mary schweigt alle Sicherheit. Zuweilen sah ich eine plötzliche Röte ins bleiche Antlitz treten, und ich meinte ein Wachtfeuer auflodern zu sehen, das den nahen Todfeind verkündet; dann fliegt ein Schauer über den zarten Leib, wie eine kalte Luft rasch durch den heißen Mittag fliegt.

Das ist ein dämonisches Verhältnis zu Henry: ich glaube, sie liebt ihn nicht, sie würde eher in meinem Arm weich und glücklich werden, so sagt es mir manchmal ein kleiner Strahl, der hinter ihrem Blicke ruht und selten von einem so geübten Auge wie das meine zu erkennen ist, so sagt es mir die elektrische Kraft, welche sich äußert, wenn ihr samtenes Kleid an mich streift, oder gar die schönen Finger wie ein Hauch an mich treffen. Ihre Hand ist wie ein prächtig Trauerlied voll melancholischer Lockung, das in weiße Seide, in köstlichen Stoff gebunden ist, ein wollüstiger Schmerz lockt aus dieser weißen Hand.

Weißt Du es nicht, daß die ursprüngliche Neigung Hand und Locke des schamhaften Mädchens treibt, flüchtig wie ein Gedanke aber wirklich den Geliebten zu berühren? Sie weiß es nicht, unbekannte Mächte tun es.

Aber das dämonische Verhältnis zu Henry wird nach außen stärker sein, es schließt die starken Ketten immer fester um sie, sie schauert, aber sie kann sich nicht wehren, die Hände sinken, sie stürzt ihm in die Arme, von dem sie weiß, daß er ihr Verderber. Du wirst es sehen.

Und Henry! Demselben Dämon ist er unterworfen, und ein ebenso schlimmer, der englische Eigensinn, eine Macht über Tod und Möglichkeit hinaus, schließt sich an, und macht das tolle Verhältnis zum Verhängnis. Henry liebt offenbar mit aller sinnlichen Liebesneigung und Glut Miß Anna, er[121] ist bezaubert von ihr, aber er schlägt die Faust darauf, daß es ihn selber zum Äußersten schmerzt, und – strebt nach Mary, durchaus nach Mary.


Später.


Es ist ganz so, wie ich sagte: er liebt Anna, aber er will Mary besitzen, durchaus, und sollte er sie aus den Wolken reißen.

Wir saßen des Morgens an der Fenstertür des großen Saales, vor welcher ein schmaler steinerner Sitz überm Meere hängt und das tief tosende Element gleichsam verhöhnt. Mary sprach mehr als gewöhnlich, das heißt, sie sprach, denn sonst schweigt sie meistens; das entzückte Anna, denn Anna liebt sie zärtlich, und verheißt in der Leidenschaftlichkeit, womit sie das zuweilen ausdrückt, dem geliebten Manne einen Himmel von Feuer und Hingebung. Sie umarmte Mary mehrmals und war viel lustiger als sonst, die alte, strenge Lady war auch nicht zugegen.

Plötzlich stand Lord Roldan auf und führte mich auf die Seite, kühl und trocken also sprechend: »Mein Herr, Sie kokettieren mit den beiden Frauen, die mein sind, mein sein sollen –«

»Beide?« fragte ich lächelnd.

»Herr, Sie erlauben sich meiner zu lächeln?«

Item, er forderte wich, und gegen Abend bestieg jeder von uns allein ein Boot, jeder nahm drei wohlgeladene Pistolen mit, jeder überließ sich der stürmischen Brandung. Verabredet war's also, daß wir aufeinander schießen wollten, so nahe als jeder imstande sei, mit Welle und Ruder dem Boote des anderen zu kommen.

Die Sonne schien klar, aber die See ging hoch, die Wellen warfen uns bald nahe aneinander, bald trennten sie uns weit. Gleichzeitig blitzten die beiden ersten Schüsse, einen Knall hörte im Wogengebrause nur jeder von seinem[122] eigenen Pistol – wer getroffen wurde und des Ruders nicht mächtig blieb, der war unrettbar verloren.

Das Meer schleuderte uns auseinander, keiner wußte, ob die Kugel das Ziel gefunden, ich war unverletzt. Es dauerte lange, eh' wir uns deutlich wieder erblickten, Lord Henry griff nach dem Pistol und zielte wie ich. Die zweiten Schüsse fielen, ich sah, daß Lord Henry das Ruder entglitt und er in den Raum seines Bootes zurücksank, die hochgehende Woge faßte sein Fahrzeug und schleuderte es von dannen. Ich strengte alle Kräfte an, um es zu erreichen, damit er nicht das Opfer seines übermütigen Eigensinnes werde, denn bei aller feindseligen Betroffenheit davon liebe ich diese gewaltsame Natur, und ich setzte mein eigenes Leben daran, um sie nicht dem wilden Elemente als Beute zu lassen. Aber meine Kräfte erschöpften sich, jener Zustand der Schwäche, der mir so verhaßt, ist, trat ein, mein Geist schlug umsonst in den unmächtig werdenden Körper hinein – da beschämten mich die Wellen, sie warfen mir plötzlich Henrys Boot entgegen, ich sprang mit meinem Ruder hinein, und überließ meinen Kahn dem Meere.

Lord Henry lag blutend am Boden; ich band mein Taschentuch um die Wunde und legte ihn so, wie es am wenigsten schmerzhaft zu sein schien.

Wir lachten beide auf – um ein Nichts, um eine Kaprice vernichtet der Mensch den anderen! »Was soll mir aber das Leben,« rief Henry, »wenn ich nicht damit schalten kann, wie es mein wechselnder Wille eben heischt; wer für das Leben sorgt, der lebt nicht, dem ists eine Bürde; was ich bewachen muß, das ist nicht mein, und der eingeschränkte Besitz ist nur einer für die Knechte.«

Wir waren nun aber weit ins Meer hinausgetrieben, und der Abend fiel dunkel herab, ich arbeitete, daß der Schweiß in Strömen über mich stürzte, die Sterne gingen auf, Henry ward totenstill, die Wunde mußte in der kalten[123] Nachtluft heftig schmerzen, aber er verriet es nicht mit einem Laute.

Ich brach zusammen, als ich das Boot endlich aus Ufer geworfen hatte, und es blieb mir doch noch die schwere Last Henrys, den ich bis ans Schloß zu tragen hatte. Er ließ es nicht geschehen, und schleppte sich, auf meine Schulter gestützt, mit eigener Kraft.


Die Strenge der Umgangssitten in diesem Lande drückte schwer: Miß Anna verging vor Angst, den leidenden Henry nicht sehen, nicht pflegen zu können.

Ich verließ sein Zimmer nicht, einem Machtlosen will ich nichts streitig machen, ich sah Miß Mary mit keinem Auge; wir sprachen viel, sehr viel, besonders über die Schwäche der Menschen.

Als er soweit wiederhergestellt war, um im Zimmer umherzugehen, ging ich zum ersten Male von ihm, um in freier, rascher Bewegung Luft zu schöpfen, ich ließ ein Pferd satteln und jagte umher bis tief in den Abend hinein.

Das hatte die wildeste Eifersucht von neuem in ihm erweckt: sein Gedanke war, ich könnte bei Miß Mary sein, er ergreift eine Waffe und eilt nach den Zimmern der Meerseite, wo die Mädchen wohnen, er dringt unbemerkt bis an ihre Gemächer, er hört Anna und Mary sprechen; sie sind allein; beruhigt schleicht er zurück in den Saal, da hört er vom andern Eingange desselben die Lady kommen. Um keinen Preis der Welt will er gesehen sein; die Tür nach den Zimmern der Mädchen hin ist noch offen, der Verdacht, die Indiskretion, dieser ganze Sittenbruch, ein Engländer empfindet ihn wie eine Todsünde. Aber es ist kein Ausweg übrig als durch die große Fenstertür nach dem Meere, sie ist einige Ellen hoch von bergendem Holze, hinter welchem man sich niederkauern kann auf der schmalen Steinplatte, die draußen über dem Meere hängt; die Nacht ist dunkel. Er[124] ergreift hastig diesen Ausweg und zieht die Türe leise an sich, ohne sie ins Schloß zu werfen, denn wenn dies letztere geschieht, so ist er ausgesperrt, sie ist nur vom Saale aus zu öffnen.

In dem peinlichen Momente, wo die Lady mit einem leuchtenden Diener den Saal entlang kommt, bemerkt er kaum die entsetzliche Situation, auf schmalem Raume, ohne Anhalt dicht über dem tiefen Abgrunde zu sein.

Die Lady kommt bis an die Tür, schilt den Diener, daß man das oft Gebotene nicht beachte, hat die Tür nicht geschlossen sei, und drückt sie fest ins Schloß – der Rückweg ist ihm abgeschnitten. Die Lady geht in das Nebenzimmer, von neuem scheltend, daß auch dorthin die Tür offen sei; der Diener beteuert, es sei niemand dagewesen.

Das Nebenzimmer ist der Lady Schlafgemach, die Kammerfrau kommt, um die Herrin zu entkleiden, also auch die Hoffnung schwindet, ein Fenster der Tür einzubrechen und dadurch den Rückzug zu gewinnen: das Geräusch würde die Lady wecken; mit Entsetzen wird er inne, daß auch die Kammerfrau in der Nähe schläft. Die Lady dürfte im äußersten Falle das Mißliche erfahren, niemals aber eine Dienerin.

Es wird still im Schlosse, die Lichter verlöschen, aber dem reichen, stolzen Lord ergeht es hart: Wind und Regen machen sich auf vom Meere, sie überfallen ihn, der sich vor Frost kaum noch erhält. Unbeweglich muß er stehen – denn jetzt hat er sich wenigstens aufgerichtet – ein fester Anhalt ist nirgends, wie immer zieht die Gefahr wie eine Sirene, der ganze Körper will im wüsten Schwindel nach dem Abgrunde zu, er kommt aus dem Krankenzimmer und ist mit Leichtigkeit von Nachtluft, Regen und unbequemer Stellung vernichtet. – Er entschließt sich, lieber selbst hinabzuspringen: der stolze freche Lord, der sonst die dicksten Taue des Menschenverkehrs ohne weiteres zerreißt, er ist von diesem[125] Spinnwebfaden der Ehrensitte dergestalt umrankt, daß er eher sich, als einen Schatten Anstand seiner Wirtin opfern will. Dies sind Geheimnisse spezieller Zivilisation.

Ich kam spät nach Hause, und weil ich kein Licht in Henrys Zimmer sah, so meinte ich, er sei zu Bett; es war mir willkommen, nun einmal nach mancher gestörten Nacht fest schlafen zu können, ich verriegle die Tür meines Gemachs und liege bald im tiefsten Schlummer. Henrys Reitknecht sagte mir am andern Morgen, er habe umsonst gepocht und gelärmt an meiner Türe, da er seinen Herrn vermißt und bei mir Rat gewollt habe. Ich erinnere mich nur, einen Augenblick erwacht zu sein und mich beglückwünscht zu haben, daß ich bei dem Sturm und Regen, der an die Fenster schlug, im Trockenen und Sicheren sei.

Die Lust am Leben, welche allen Geschöpfen innewohnt und welche die größten Empfindungen gemacht hat, trieb Lord Henry endlich auch zu einem Entschlusse und Versuche – das Pistol, welches er von seinem Zimmer mitgenommen, lag neben ihm auf der Steinplatte, er unternahm noch einmal das Gefährliche, sich zu bücken, und mit erstarrter Hand danach zu greifen. Es gelang, und er zielte nun mitten ins Schloß der Tür hinein, um sie aufzusprengen, und mit einem tüchtigen Rucke in den Saal, und von dort rasch, ehe jemand in den Weg treten könne, auf den Gang, nach seinem Zimmer zu kommen.

Der Schuß versagte – Henry zwang seinen Sinn vor sich selbst zur Ruhe, zum Gleichmut, zog das Gewehr noch einmal langsam auf, drückte noch einmal ab, es knallte und krachte; es gelang.

Natürlich geriet da oben alles in Bewegung, man stürzte hinzu, man fand das Unerklärliche, man mutmaßte nach allen Richtungen – Henry, um alledem eine andere Wendung zu geben, warb am nächsten Morgen um die Hand der Miß Anna, entdeckte der Lady seinen wahren Namen.[126]

Bestürzt und erfreut trieb sie zur augenblicklichen Reise nach London, damit dort die Hochzeit gehalten würde. Bestürzt war sie um Marys willen, die einst just vor Henry zu ihr gerettet worden war, erfreut war sie, weil Anna in glühender Liebe für den Lord brannte, weil ihr selbst der Schwiegersohn wohlgefiel.

Es war noch nicht Mittag, da fuhren wir alle gen London, ich mußte Harrys Bitten weichen, ich mußte mit; denn Mary blieb zurück, weder er noch ich hatte sie wieder gesehen.


Später.


Seit der Zeit sind Wochen vergangen, das Ehepaar schwelgt in den Flitterwochen, ich konnte das charaktervolle Bild Marys nicht vergessen und ihre verzauberte Einsamkeit auf der Abtei; in einer Stunde des Gedankens daran warf ich mich aufs Pferd und ritt Tag und Nacht, hinaus nach dem Felsenschlosse. Im Walde vor dem Hügel ließ ich das Pferd meinem Burschen, und eilte hinauf, niemand begegnete mir, ich kam in den Saal, Mary saß am Fenster und schaute ins Meer hinaus; das dunkle Haar hing aufgelöst über den bloßen Nacken und das schwarze Samtkleid herab, sie glich einer Balladenkönigin, und hob staunenden Rufs ihre Arme, da sie mich sah.


Das Kleid war schwarz, der Leib war weiß,

Die Hand war kalt, das Herz war heiß;

Sie wehrte, rang und küßte –


Es gibt Dämonen, die ihre Krallen tief herein strecken in die Welt, glaub' mir's. Sie schüttelten dies Weib selbst in meinen Armen, sie gönnten ihr keine Ruhe, kein Glück, in den Träumen rang sie mit Henry.

Und diesem erging es ebenso: von der Seite des liebenden und geliebten Weibes ward er zur Nachtzeit getrieben, und er flog nach der Abtei, und als ich nach einem[127] Jagdausfluge von zwei Tagen zurückkehrte, da stand Mary hinter der offenen Fenstertür des Saales, auf der Steinschwelle, die über dem Meere hängt, ihr Samtkleid hing zerrissen an der einen Schulter, das Haar flog aufgelöst im Winde, sie sang Liederverse Opheliens, und mich kannte sie nicht mehr. Es war grausig, und ich entfloh zum zweiten Male.

Lord Henry ist nicht wieder gesehen worden in Altengland.


Ich habe sonst ein fatumhartes Wesen, ich kann arge Dinge sehen, wie sie die Menschen Unglück nennen, und sehr unbefangen dabei bleiben; für mich hat die Welt starke Nerven, weil sie ihr meiner Meinung nach notwendig sind. Wir sind wie Tiere in den Wald gesetzt und haben uns unserer Haut zu wehren. Aber es schauerte mich, als ich am Eingange des Eichenwaldes mich noch einmal umwendete, und die verödete Abtei da oben sah, das zürnende Meer dahinter hörte. Wie lag sie damals sonnenfröhlich da! Wir haben unsern Fuß hineingesetzt, und der Dämon ist auf unsern Schultern gekommen – jetzt ist sie verwüstet.

Ich muß der Welt nicht mehr Gesicht zu Gesicht gegenüberstehen, denn wo ich hinblicke, richt' ich Unglück an, oder helfe es anrichten. Und wo kein Glück mehr ist, da ist der Tod, Glück ist eben das richtige Verhältnis. Ich hab's verloren – pah! ich muß doch weiter.

Mit welcher Mühe entrinn' ich der alten Lady, der verzweifelnden, über ungewisse Verlassenheit hinstarrenden Anna! So jung, so rot, so lebenswarm, so vertrauend, so hingebend, so schön, so gut, so lieb und so vernichtet! Wenn's mich rührt, Valerius, wie muß es sein!

Geht's nicht auch mit mir zu Ende? Ich erschrecke, ich fliehe, ich bedauere – wie will das in mein Leben passen?[128]

Sie verfolgen mich, diese unglücklichen Weiber, ich soll ihnen Auskunft geben, oder mit ihnen nach Auskunft suchen über Lord Henry.

Die stolzen, schweigsamen Ladys, diese schwarz gebundenen Velinbücher, welche die Sitte mit goldenen Spangen verschließt, mit nördlichem Reife behaucht, und in denen morgenländisch glühende Märchen ruhen, sie betrachten mich kalt und scheu und neugierig. Diese Vereinigung im Blicke ist echt englisch. Um solcher Welt der Untersuchung zu entgehen, schließ' ich mich an die Genossen tollen Lebens, ich brauche eine kräftigere Bewegung, als sie das Nachdenken über unabänderlich Geschehenes bietet – manche Nacht sprangen wir durch die gaslichten Straßen hinaus in die Nacht, um ein Landhaus zu besuchen, wo eine fröhliche Wirtschaft gedeiht. Mädchen aus Afrika, Bajaderen aus Ostindien, verschlossene Amerikanerinnen, verschleierte Ladys, verlarvte Kinder begegnen uns dort, Prinz Heinz hat reizloser liederlich gelebt.

Es ist ein Mädchen dort, von allen die Perle genannt, die mich wunderbar fesselt, obwohl sie mir niemals ihr Antlitz zeigt; sie kleidet sich frei und prächtig wie eine Indierin, sie tanzt mit dem Tamburin zum Entzücken, alle übrigen haben ihr Antlitz gesehen und nennen sie schön zum Erstaunen, alle übrigen haben mit ihr geredet und finden sie liebenswürdig zum Berauschen – mir nur zeigt sie ihr Antlitz nicht, mir nur gönnt sie kein Wort; aber sie sucht mich, sie hört mich, sie verständigt sich mir durch die reizendste Pantomime. Perle, du reizest mich zum Äußersten, erhöre mich auch, erfülle den Reiz! Sie schüttelt mit dem Kopfe.


Ich jagte heut allein hinaus und fand »die Perle« in einem mystisch beleuchteten Zimmer, wie es die deutschen Romanschreiber gern für Liebesabenteuer schildern. Umsonst drohte ich, bat ich, flehte ich sie, den verhüllenden Schleier[129] vom Gesicht zu ziehen, ein Wort zu sprechen, umsonst. Aber übrigens war sie sanft, war sie hingebend, wiegte mich in süße Verlangnisse, überschüttete jene Neugier mit Wollust. Als ich darein verloren war und sie verloren glaubte, raffte ich mich auf und riß ihr den Schleier vom Haupte – wen erblickt' ich und was erfuhr ich! Nur ein Moment blieb mir Freiheit, Margaritens schönes, aber tödlich drohendes Antlitz zu sehen, im nächsten Augenblicke hatte ich mit aller Anstrengung um mein Leben zu kämpfen. Sie hatte behend wie eine Schlange den leichten Schal ihres Halses um meinen Nacken geschürzt, sie schnürte ihn mit aller Kraft zusammen, um mich zu erdrosseln – es war ein Ringen um Leben und Tod mit einem starken, wütenden Mädchen.

Als ich sie mühsam überwältigt und nach Luft geschöpft hatte, lag sie zitternd am Boden, zitternd von der gewaltsamen Anstrengung und vor Wut – »Du hast mich zur Bajadere gemacht,« sagte sie halb erstickter Stimme, »mache mich auch zur Leiche, oder ich werde dich verfolgen, bis ich dich erwürgt habe.«

Ich eilte von dannen. Dies schreib' ich auf einem amerikanischen Schiffe, das auf Wind harrt, um die Anker, zu lichten. Am Strande, von wo ich ins Boot sprang, sah ich von neuem Margarita, sie war es sicherlich, obwohl ein dichter Mantel und Schleier sie verhüllten, wer könnte sonst die Worte sprechen, die ich deutlich bis auf die kleinste Silbe vernahm:

»Wo du auch hingehst, meine Rache wird neben dir sein.«

Versuch's, rachlustig Mädchen, durch den Ozean zu schwimmen. Leb' wohl, sanfter Deutscher!

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 3, Leipzig 1908, S. 115-130.
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