8. Hippolyt an Valerius.

[98] Gestern hat mir der kleine liebenswürdige Pelagianer folgendes aus seinem Brüsseler Leben erzählt, was er zum Teil noch neben mir angesponnen hat. Du weißt so gut wie ich, daß auf die Wahrhaftigkeit Leopolds kein Sou zu verwetten ist, das folgende ist aber ziemlich allgemein bekannt worden, und man bestätigt mir das einzelne von vielen Seiten.

Eine reiche Handelsfrau, Madame Joao, fährt bei rauher Witterung durch eine enge Straße in Brüssel; es kommt ein Wagen entgegen, daraus entsteht Verzug. Hinter einen Prellstein geschmiegt, spärlich von Lumpen bedeckt, sitzt ein kleines Mädchen. Das kleine Wesen, in einem Körbchen Früchte zum Verkauf haltend, friert sehr und blickt mit ihren wunderbar schönen Augen rührend zu Madame Joao auf. Diese fühlt sich im Innersten betroffen von dem rührenden Blicke, läßt das Kind in den Wagen heben, wärmt es, findet ein fein gebautes, reizendes Geschöpf, fragt nach Vater und Mutter desselben, fährt dahin, läßt sich das Kind abtreten und verspricht[98] den Eltern dafür eine jährliche Unterstützung. Das Mädchen heißt Maria und nimmt sich in den neuen Kleidern wie ein Engel aus; die wunderbaren Augen, unschuldig, lieb, bittend, wie man sie bei Gemsen findet, üben den gewinnendsten Zauber auf alle Welt. Haut, Farbe, Formen sind von zartester Feinheit, die Sprache ist weich, das Verständnis zeigt sich sehr empfänglich, das Gefühl überaus fein, und tief, die kleinste Erregung desselben gießt eine schöne Röte über das sonst ein wenig blasse Gesichtchen.

Madame Joao ist sehr glücklich in dem neuen Besitze, es vergehen ein paar Jahre, sie läßt Marien sorgfältig unterrichten, diese lernt alles mit Leichtigkeit und gedeiht aufs beste. Madame Joao, eine reiche, unabhängige Witwe in den besten Jahren, hat einen jungen Schauspieler zum Hausfreunde, namens Jaspis, dem sie sich sehr zugetan zeigt, und der täglich ins Haus kommt. Er ist ein schöner, feuriger Mann, mit ganzer Seele Schauspieler, und bekundet dies durch lebhaften Vortrag jeder Weise, durch dichterische Ausdrücke, die ihm für alles zur Hand sind. Er macht den tiefsten Eindruck auf die damals zwölfjährige Maria, sie setzt sich oft auf die Treppe, damit sie ihn beim Weggehen sieht, sie ist ungewöhnlich bewegt, wenn er ein leichtes, scherzendes Wort an sie richtet, oder wohl gar, wie man mit einem kleinen Mädchen zu tun pflegt, ihr die Locken, die Wange streichelt. Es vergehen mehrere Jahre, die in der Stille mit aufwachsende Neigung Marias wird durch nichts unterbrochen, sie ist überglücklich und außer Gewohnheit lustig, wenn die Tante, Madame Joao, sie mit ins Theater nimmt. Eines Nachmittags beim Kaffee sagt Herr Jaspis halb scherzend zu ihr, ob sie nicht Lust habe, selbst Komödie zu spielen, sie sei jetzt beinahe fünfzehn Jahre und ein erwachsenes, schönes Mädchen. Wie ein Blitzstrahl zünden die Worte, Tränen stürzen Marien aus den Augen sie fällt der Tante um den Hals und bittet sie, beschwört sie um Erlaubnis, aufs Theater[99] zu gehen. Die überraschte Tante, welche auf die Herzensbewegungen des Mädchens nicht so sorgfältig acht gegeben hatte, sagt ja, Maria meldet sich, Jaspis studiert ihr ein Paar Rollen ein, das Mädchen wogt in Glück und Bewegung, sie küßt ihm die Hand, man findet, daß sie eine geborene Schauspielerin sei. Sie tritt auf; das wunderbare Mädchen, mit dem unwiderstehlichen tiefsten Ausdrucke des Auges, mit dem feinen, schönen Körper, mit den zarten, halb verschämten, halb herausdrängenden Bewegungen, mit einer Stimme, worin die Seele selber klingt, macht Furore. Nun erst wird Jaspis aufmerksam, er rechnet alles zueinander, und sieht es nun erst, daß eine tiefe Neigung für ihn existiere. Es rührt ihn, und bei der nächsten Begegnung nimmt er Maria in den Arm und küßt sie auf die Stirne – das Mädchen erbebt und zittert am ganzen Leibe. Solche Szene wiederholt sich im Verlaufe der nächsten Zeit noch zweimal, Jaspis spricht aber nie ein erklärendes Wort dazu, noch weniger spricht er direkt etwas aus, was ein Verhältnis, ein Bündnis wünschen könnte; die Tante dagegen, welche irgendwie etwas von dem Zustande geahnt haben mochte, warnt Marien ohne Rückhalt vor Jaspis, sagt, daß er nur zu geneigt sei, in Tändelei mit einem Mädchen einzugehen.

Maria wird krank; um diese Zeit ist Leopold im Hause der Witwe eingeführt worden. Sein einschmeichelndes, liebenswürdiges Wesen erwirbt ihm das größte Wohlwollen der Witwe, er überflügelt am Krankenbette der Kleinen mit leichter Mühe die materiellen Versuche der übrigen Ärzte, welche wie gewöhnlich nichts als ein körperliches Krankheitsschema vor Augen haben. Du weißt, er versteht es, in mystisch-poetischer Weise über das menschliche Herz zu sprechen, ihm ist jederzeit eine ganz scharmante ideale Welt zur Hand, wenn ein sinniges Frauenzimmer danach verlangt, kurz, er poetisiert Marien gesund, und mit der gefällig unterstützenden Witwe ist er bald Verlobter des liebenswürdigen Mädchens.[100] Das geht so eine Weile, aber beim Komödienspiel bleibt die neue Berührung mit Jaspis nicht aus; der scheint zwar noch immer keine Lust zu haben nach einem eigenen ausgesprochenen Besitze, aber, wie das in der neidischen Menschenbrust immer geht, er will auch die Möglichkeit nicht abgeschnitten, er will auch Maria nicht als Eigentum eines anderen sehen. Das alte halbe Verhältnis wacht wieder auf, Leopold, der Wandelbare, läßt sich mancherlei kleine Seitenwege zuschulden kommen, die Tante endigt und schickt Maria nach Antwerpen, wo ein Engagement offen ist und sie vom Publikum mit Enthusiasmus empfangen wird. Stürmischen, unruhigen Herzens war sie angekommen, denn am Tore von Brüssel war Jaspis an ihren Wagenschlag getreten, hatte ihr die Hand hineingestreckt, ihr mit weicher Stimme Lebewohl gesagt, und zum erstenmal wenigstens die Bitte direkt an sie gerichtet, keinen andern zu heiraten.

Aber der Verkehr mit der großen Menge wirft seine Nebel auf das Herz, der allgemeine Beifall ist ein natürlicher Feind der halb Liebenden; Maria gewann eine unbefangene Stimmung, Leopold, der nach Antwerpen kam und sich um die Stellung eines Theaterarztes und Theaterdichters bewarb, kam ihr ganz angenehm, sie unterstützte sein Gesuch, sie verschaffte ihm den Kontrakt. Er war so weich, so innig, so poetisch; auch von Lob und Enthusiasmus umgeben, braucht man ein Herz, das an unserm Eigensten, Innersten teilnimmt. Du weißt, wie verführerisch Leopold sein kann, Maria fühlte in Antwerpen mehr als in Brüssel, wieviel Mißliches das Alleinstehen eines Mädchens hat. Jaspis ließ nicht das mindeste von sich hören, kurz, Leopold eroberte ihre Hand und ein tüchtiges, herzliches Wohlwollen mit ihr. Sie umarmte ihn oft plötzlich mit den Worten: »Du bist doch mein herziger, lieber Mann.« So ging's eine Zeitlang aufs beste, da plagt den Kleinen die alte Sucht nach Bewegung und Unruhe, eine beißende Kritik sämtlicher Schauspieler drucken zu lassen;[101] diese erklären allesamt und geharnischt der Direktion, nicht mehr aufzutreten, wenn Leopold in Verbindung mit dem Theater bliebe. Sie muß sich zur Entlassung Leopolds entschließen. Maria sendet natürlich auch die ihrige, und alle Welt erwartet, dieser enthusiastisch geliebte Liebling des Publikums könne nicht entlassen werden; die Direktion ist in größter Verlegenheit, aber die Schauspieler bestehen energisch auf ihrem Entschlusse, es wird auch Marien die Entlassung zugeschickt. Nun sammeln sich die Freunde des Paares, die äußerst zahlreich sind, de größte Teil des Theaterpublikums, das sie vergötterte, schließt sich ihnen an, man setzt fest, daß jede Schauspielerin, die in einer Rolle Mariens auftreten würde, ausgepfiffen sein solle, man bringt Marien Nachtmusiken und Vivats, und erwartet ungeduldig den Tag, wo eine Rolle Mariens drankommen werde. Die Direktion ist klug genug, den so weit als möglich hinauszuschieben, unterdes erkaltete das Interesse gegen die übertriebene Teilnahme bildet sich wie immer eine nüchterne Opposition, der Abend kommt, die Nachfolgerin Mariens wird mit dem besten Beifalle aufgenommen.

Diese Roheit, weiche in jeder Masse liegt, trifft Mariens Herz wie ein Dolch; sie treibt zur Abreise, sie fühlt sich verlassen, das Unglück führt sie nach Brüssel zurück. Die Tante tröstet aufs beste und warnt vor dem Theater, aber Marie kann es nicht entbehren, die übrige Welt ist ihr zu prosaisch, nur auf den Brettern findet sie Nahrung für ihre ideale Sehnsucht. Jaspis hat sich unterdessen ebenfalls verheiratet, bleich, schwermütig tritt er ihr entgegen, aber durch den Nebel glaubt sie die alte verborgene Zärtlichkeit zu sehen. Eines Abends ergreift er ihre Hand, bedeckt sie mit Küssen und sagt: »Marie, wir sind beide unglücklich!«

Marie fällt in Ohnmacht, sie muß nach Hause gebracht werden, und von der Stunde an hat sie ihr Lager nicht[102] mehr verlassen, es entwickelt sich eine Herzkrankheit, an welcher sie stirbt.

Das sind Eure kläglich halben Zustände und Verlangnisse. Leopold sagt, er sei lange besinnungslos gewesen vor Schmerz, jetzt hat er's lange vergessen, und erzählt die Sache seiner kurzen Verheiratung wie eine Novelle sonst woher.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 3, Leipzig 1908, S. 98-103.
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