22. Julia an ihre Mutter.

[123] Wie es mir geht, meine liebe, liebe Mutter? Gut – schlecht – die Worte passen nicht dafür; unglaublich wunderlich. Für Augenblicke fühl' ich mich beseligt, ich schwimme in Blütendüften, und dann kommt wieder ein langer Tag unaussprechlicher Angst, kindischer Verzweiflung. So leiten die Dichter gewöhnlich ein, wenn sie ein verliebtes Mädchen einführen wollen; ich weiß, wie oft Papa darüber lachte, aber hier ist es doch ein wenig anders. Ein junger Mann, von aller Welt kurz Hippolyt genannt – er soll der Sohn eines spanischen Grand sein – macht mir auf eine beispiellose Weise den Hof. Sein stürmisches Wesen, mit dem er mich übereilte, hat mich tödlich erschreckt; was ich von der Fürstin Konstantie, die seit einigen Tagen hier ist, vernehme, was ich an der unglücklichen Alberta sehe, die ihn glühend liebt, und plötzlich von ihm verlassen ist, flößt mir ein Grauen vor dem Menschen ein. Und dabei ist er zauberhaft schön, beredt, liebenswürdig – ach meine liebe Mutter! dafür ist der Ausdruck erfunden: er ist ein gefährlicher Mensch. Wenn alles wahr ist, was man vereinzelt von ihm hört, so ist er ein solcher Ausbund von Lasterhaftigkeit, eine solche Größe von Untugend, daß man versucht wird, ihn zu bewundern. Er weiß z.B. um Albertas heftige Neigung für ihn, er hat sie hingenommen wie ein angenehm Geschenk, und vom Tage meiner Ankunft an nicht die mindeste Notiz mehr davon gezeigt. Meinst Du nun aber, daß er in ihrer Gegenwart befangen, auch nur im mindesten befangen wäre? Gott bewahre; er unterhält sich harmlos, als ob gar nichts vorgefallen sei. Mich verfolgt er mit den feurigsten Versicherungen seiner Liebe; aber selbst in seinen Bitten liegt[123] etwas Wildes, Herausforderndes. Der Himmel weiß, was die Fürstin gegen ihn hatte, sie nahm in der ersten Zeit ihres Hierseins unglaublich leidenschaftlich Partei gegen ihn, sie war immer so erregt, wenn sie von ihm sprach, daß ich eine Zeitlang glaubte, sie habe eine glühende Neigung in die Livree des Hasses gekleidet – es war ein auffallender Anblick, diese stolze gewaltige Frau und den imponierenden Hippolyt einander gegenüber sitzen zu sehen: Konstantie sah ihm vornehm, fest, starr in die Augen, als erzähle sie ihm eine Geschichte von seiner eigenen Nichtswürdigkeit; er gab die Blicke sprühend zurück und warf einen ganzen blitzenden Wolkenhimmel mit lauter Zerstörung und Verachtung in ihre Augen, der verächtlich heruntergezogene Mund sprach die Erläuterung jener fürchterlichen Blicke. So oft er den Namen Desdemona aussprach, war der Stolz der Fürstin gebrochen, ihre Schlacht verloren – es ist unverkennbar, daß sich die beiden Leute gekannt, und vielfache Beziehungen zueinander haben. Konstantie ist heftig, leidenschaftlich, sogar rachsüchtig, weil sie nicht nur eitel, sondern stolz ist – sollte es ihr vielleicht mit Hippolyt wie der armen Alberta ergangen sein! Ich will doch genau achthaben, oder Hippolyt selbst einmal fragen – erinnerst Du Dich nicht, liebe Mutter, wie verwegen sie vorigen Winter in Berlin über dergleichen Dinge sprach, wenn sie des Donnerstags in unsere kleineren Gesellschaften kam? Ich habe mich immer vor ihrer Art zu lieben gefürchtet; ihre Neigungen sind ein glühender Sirokko, und sie paßt eigentlich ganz zu Hippolyt. Die gute Alberta hat einige Tage unaussprechlich gelitten, jedoch es scheint mir wie eine hitzige Krankheit mit Heftigkeit, aber schnell vorübergehen zu wollen. Ihr zum Glück und uns allen zur Freude ist ein Herr Valerius hier, der auf alle den wohltätigsten Einfluß ausübt. Er ist der einzige, mit dem Hippolyt in seiner jetzigen Leidenschaft, die aus allerlei Ingredienzien zusammengesetzt ist, redet. Ich glaube, Hippolyt haßt die[124] Fürstin ebenso, wie er mich zu lieben glaubt, und wenn ich dem Manne heute sagte, ich liebe ihn, so teilte ich wahrscheinlich in einigen Wochen das Schicksal seiner Verlassenen – ich will aber mein Schicksal mit niemand teilen, ich will mich durch nichts hinreißen, übereilen lassen, ich will nicht diesen Gefühlsaufwand, diese Stürme, diese Unebenheiten, dies unersprießliche Geräusch. Liebe Mutter, ich bin meines Vaters Tochter, schilt mir nicht dies mein Wesen. Es macht diese innere Ordnung nur mein Glück. Könntest Du Dich mit mir hier umsehen, wie die Neigungen, Leidenschaften, Verhältnisse bunt durcheinander liegen, wie in einem ungeordneten Zimmer, Du würdest mit mir davor zurückschrecken. Solche Unklarheit, Verworrenheit meiner inneren Dinge ist immer ein Unglück für mich, das mich zu Tode hetzte wie ein Gespenst. Darum lobte ich den Herrn Valer; fast alle lehnen sich an ihn, weil er allein fest zu stehen scheint. Es ist, als ob er mit Alberta in magnetischem Rapport stände, sowie er zu ihr tritt, schließt sich die Blume ihres Schmerzes mit ihren Tränen, und das liebe Mädchen ist mild, sanft, ja manchmal sogar heiter. Er spricht sehr schön, nicht so glänzend wie Hippolyt, aber eindringlicher, gediegener; alle seine Eigenschaften sind nicht so blendend wie bei diesem, aber alle sind sicherer, fester, abgemachter. Ich liebe das sehr. Auch Graf Topf ist ihm sehr zugetan, und die Fürstin, welche ihn anfänglich ignorierte, weil er etwas sparsam in den Annäherungs- und Höflichkeitsformen ist, geizt jetzt förmlich mit seinen Gesprächen. Er schafft uns die einzigen heimlichen Abendstunden; wir sitzen auf der Plattform des Schlosses unter dem Zelte, sehen auf der einen Seite nach den fernen Bergen, auf der andern nach der nahen Stadt und dem Flussesspiegel, der zu ihr hinzieht; Hippolyt rastet selten lange dabei, sondern stürmt meist zu Pferd durch die Ebene, und Valerius bringt uns in das liebenswürdigste Geschwätz. Er hat zwar eigentlich selbst abscheuliche Grundsätze über[125] Ehe, Staat und Menschen, aber er versteht es, das Wildeste geordnet vorzutragen, interessant, wünschenswert zu machen; die freien Dinge, welche Konstantie äußert, sind eigentlich bei weitem nicht so arg als die seinen, und doch klingen sie mir soviel greulicher. Es kommt vielleicht daher, weil sie mir unweiblich dünken. Die Fürstin verteidigt zum Beispiel den Genuß aller Vergnügungen, auch wenn sie nach unseren bürgerlichen Ansichten zu den verbotenen gehören. Sie hält z.B. die Ehe nur für eine Form, welche der äußeren Dinge wegen da sei, und namentlich den materiellen Besitz des Weibes sichere. Es wird mir unheimlich, wenn ich eine verheiratete Frau so sprechen höre – wenn dergleichen verwirklicht werden sollte, so müßte ja ein trostloses Durcheinander entstehen. Valer, welcher die Frauen selbständiger gestellt sehen will, und wunderlich genug von den neuen verwirrenden Zeitbewegungen viel für uns erwartet, opponierte der Fürstin in vielen Dingen. Er machte sie darauf aufmerksam, wie gerade jetzt das äußere Leben der Frauen in der Luft schwebe, wenn sie ihren einzigen Haltpunkt, die Ehe, aufgäben; wie nur die stärksten und edelsten Weiber einen Übergang zu besserem freierem Gesellschaftsleben dadurch bilden könnten, daß sie sich der Ehe nicht unterwürfen, die neuen Begriffe aber auf alle Weise unterstützten, weil nach der politischen Revolution die soziale vor den Toren läge, durch welche das Weib eine gesellschaftliche Stellung erlangen würde. Das Christentum habe das Weib nur zur Hälfte frei gemacht, es müsse es ganz werden; der jetzige Durchgangspunkt aber bringe wie jedes Ringen nach neuen Zuständen, wie alles Halbe sehr viel Unglück, und die Frauen müßten sehr auf ihrer Hut sein, da die öffentliche Meinung noch keineswegs soweit gebracht sei, Toleranz gegen sie zu üben. Die alten Verhältnisse seien wie die alte Kirche in Auflösung begriffen, die Rettung sei nahe, aber die Gefahr doppelt groß. Ich schreibe Dir diese Dinge aus meinem[126] treuen Gedächtnis; ich verstehe wenig oder gar nichts davon, und sie würden mich wie alles Ändern beunruhigen, sähen sie nicht in dem Vortrage Valers so abgemacht aus. Die Fürstin protestierte feurig dagegen. Sie gab die eigentliche Auflösung der Ehe und Kirche in den höheren Ständen zu, fand die Auflösung vernünftig, verlangte aber das Beibehalten der alten Formen, welche die Gebildeten schützten und doch nicht beengten, der großen Masse aber notwendig seien. Valer nannte das lächelnd Aristokratismus und gebrauchte den garstigen Ausdruck, daß auf diese Weise die Welt verfaule. Geschwüre müsse man aufschneiden, auch wenn es schmerze. Fi, – wie häßlich klingt das, und doch fällt es mir jetzt erst auf; im Munde des Mannes klang's nicht so. Herr William, einer der hiesigen Gäste, verteidigte hart und unduldsam das Bestehende, und tadelte beide Ansichten, sie seien unchristlich und darum unsittlich, lösten das Fundament der Zivilisation und untergrüben die Grundprinzipien der Gesellschaft; sie seien die Ausgeburt des menschlichen Dünkels, welcher die Gottheit spielen und die ewigen Gesetze umändern wolle. Die Menschen hätten zu hundert Malen versucht, das Christentum abzuschaffen, und seien immer zuschanden geworden; ihm verdankten wir alle Art von Bildung, und es heiße auf die Barbarei zurückdrängen, wenn man dergleichen Auflösung predige – menschlicher Verstand ordne keine Welt, der göttliche sei uns in Christo zu Hilfe gekommen, und es heiße Gott lästern, wenn man seine eigenen Institutionen verbessern wolle. Valer nahm das Gespräch gegen ihn auf; ich kann Dir's nicht wiederholen, weil es für mich zu gelehrt wurde. Die Fürstin lud beide ein, in einigen Wochen auf ihrem Lustschloß einzukehren, wo sich einen Monat hindurch viel Gesellschaft zusammenfände. Es sei ein Gesundbrunnen in der Nähe, welcher Valers nicht ganz fester Gesundheit sehr zuträglich sein werde. Alberta sah aufmerksam und fast ängstlich drein und horchte. William nahm[127] die Einladung sehr dankbar an, Valer schlug sie aus. Die Fürstin war verletzt. Alberta schien erfreut; wir trennten uns. – – Soeben ist der Graf aus der Stadt zurückgekommen und hat die wunderliche, aber wie er meint, zuverlässige Nachricht mitgebracht, daß sich unter den hiesigen Poeten ein verkappter Prinz aus einem sehr vornehmen Hause befinde. Du kannst denken, welche Neugier diese Nachricht erregte; die Meinungen waren alle dafür, es könne nur Hippolyt oder Valerius sein. Natürlich dauerte es auch nicht lange, daß beide aus dem Fragen, Zischeln, Ausholen erfuhren, um was es sich handle. Hippolyt schlug ein tolles Gelächter auf und verlangte unanständig, man solle seinen Vater nicht verunglimpfen, der ein Mauleseltreiber in Katalonien sei. Valerius lachte ebenfalls und erklärte mit liebenswürdiger Offenheit, daß sein Vater ein schlichter Landgeistlicher mit vierhundert Taler Gehalt wäre und noch sechs Prinzen außer ihm und zwei Prinzessinnen auferzogen habe. Die Gesellschaft war durch diese Erklärungen verstimmt, und die Fürstin fragte pikiert Valerius, ob es ihm so unangenehm sei, für einen Prinzen gehalten zu werden. Der abscheuliche Mensch antwortete sehr ernsthaft »ja.« Auf William riet wunderlich genug niemand, und obwohl man die Vermutung bei Hippolyt und Valerius noch keineswegs aufgab, so ging doch nun alles auf den sogenannten Provenzalen Herrn Leopold über. Dieser kleine hübsche Mann ist sehr wenig auf dem Schlosse zu sehen, er streift in der Umgegend umher und soll lauter demokratische Liebschaften anknüpfen. Seine Freunde wußten nichts über sein Herkommen, und dem einfältigen Valerius fiel es erst jetzt ein, daß er schon früher einmal von Leopold selbst etwas Ähnliches gehört, es aber vergessen habe. – –

– – Wir saßen eben nachmittags im Garten, als der Kleine von seinen Streifereien ankam. Er hat wirklich so etwas Apartes an sich, und ist so fein und niedlich, als[128] sei er in Purpurwindeln gewickelt gewesen. Man fragte ihn; er tat verlegen, leugnete nicht direkt, gab nicht eben zu – kurz bestätigte alle in dem vorgefaßten Glauben, und hat nun den immerwährenden Spott von Hippolyt, den Scherz von Valer zu erdulden. Jener nennt ihn nicht mehr anders als »Kleine Exzellenz!« Was mich anbetrifft, ich glaube, der Prinz steckt anderswo. O Mutter, rat' mir, hilf; Hippolyt überströmt mich mit feuriger Liebe; zuweilen komme ich mir wie die glückliche Omphale vor, zu deren Füßen Herkules ruht, und zuweilen wieder wie die unglückliche Proserpina, welche der Gott der Unterwelt bedroht und vom Lichte der Sonne hinwegreißen will.

O wie schmerzhaft ist mir diese Unsicherheit, diese Verwirrung, welche die Männer anrichten! Unsere fröhliche, muntere Kamilla ist – der Himmel weiß wodurch – vollständig umgewandelt. Sie ist still wie das Grab, und ist wenig unter uns.

Eben erhalte ich einen Brief vom Vater aus Paris – ich werde Dir ihn beilegen – Adieu, tausendmal Adieu, meine liebe zärtliche Mutter.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 123-129.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das junge Europa
Heinrich Laubes gesammelte Werke: Band 1. Vorbericht und Inhaltsverzeichnis. Das junge Europa. Band 1. Die Poeten
Das junge Europa. 3 Bde. Bd.1: Die Poeten Bd.2: Die Krieger. Bd.3: Die Bürger.
Das junge Europa

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldsteig

Der Waldsteig

Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon