30. Julia an ihre Mutter.

[150] Du hattest recht, Mutter, als Du mir rietst, meinen Aufenthalt in Grünschloß abzukürzen, Hippolyt würde mein Unglück sein. Er ist der schönste, gewaltigste Mann, den ich gesehen, wäre ich länger geblieben, so hätte er mich überwältigt, ob ich ihn deshalb je geliebt hätte, weiß ich nicht.[150]

Gestern bin ich abgereist, weil es die höchste Zeit war, ich gehe zum Vater nach Paris und schreibe Dir dies Billett aus dem ersten Nachtlager. Morgen mehr, liebe Mutter, ich bin todmüde. Fast eine Stunde lang bin ich im Wagen ohnmächtig gewesen – Hippolyt kam wie ein zürnender Gott hinter dem Wagen her und wollte mich halten. Ach Mutter, was hab' ich gelitten dabei. Ich gab ihm meine Hand, unendliche Wollust jagte sein Kuß darauf durch meine Sinne, aber mir war's, als hielte mich ein wilder Geist. Mein Mädchen, die etwas von unseren Gesprächen verstanden hatte, gab den Kutschern ein Zeichen, der Wagen flog davon, Hippolyt schrie auf, daß es mir Mark und Bein erbeben machte, er jagte uns nach, das Pferd brach unter ihm zusammen und stürzte auf ihn – Mutter, ich war zertrümmert, schrie Halt, wollte aus dem Wagen – ach – meine Kräfte hatten mich verlassen, ich war bewußtlos zurückgefallen, das Mädchen hatte fortfahren lassen. Sie erzählte mir, Hippolyt habe unverletzt geschienen, habe selbst uns fortgewinkt, sei aufgestanden und habe uns lange mit untergeschlagenen Armen dastehend, nachgesehen.

Ach, es war sehr traurig, liebe Mutter, und ich werde wohl lange nicht froh werden.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 150-151.
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