4. Durst nach Erlösung

[227] Christus! Vor dir niedersinken,

Fest umfassen will ich Dich!

Vater-Blicke Gottes winken1

Meiner Seele. Treiben mich,

Der ich todt und Sünde bin,

Zu dir, Quell des Lebens, hin!


Siehe, wie das Netz der Sünden

Mich Verlornen ganz umschlingt!

Will ich mich mit Dir verbinden,

Wie mein Fleisch zurück mich zwingt!

Unaussprechlich schwach bin ich!

Sünder-Retter, rette mich!


Freyheit dürstet meine Seele

Aus dem Netz der Leidenschaft!

Wer, wer giebet meiner Seele

Freyheit? Leben? Sieg und Kraft?

Wer dem bangen Herzen Ruh'?

Jesus Christus, wer als Du?


Länger, Jesus, nein, nicht länger

Wartet mein verschmachtend Herz![227]

Immer schmachtet es, und bänger,

Heißer immer wird mein Schmerz!

Jesus! Meine Zuversicht!

Jesus! Länger wart' ich nicht!


Jesus! Aus der Sünde Rachen

Reiß mich Todten hin zu Dir!

Kannst du Sünder seelig machen,

So beweiß es nun an mir!

Kannst du, Jesus, mich befreyn,

Kannst du Aller Heyland seyn!


Bist Du, lebst Du, ach, so zeige

Meiner Seele, daß Du bist!

Daß Du mir, auch mir lebst! Schweige

Länger nicht, o Jesus Christ!

Leben soll dein Geist in mir!

Leben will ich nur in Dir!


Ausgegossen ist dein Leben2!

Nahe deines Geistes Kraft!

Kannst Du nicht mein Herz erheben?

Du, der jedes Leben schafft?

Innig näher mir, wer ist

Wer, als Gott in Jesu Christ!


Dich kann mir kein Satan rauben!

Menschen-Mittler! Gottes Sohn!

Könnt' ichs glauben! Könnt' ichs glauben!

Frey und seelig wär' ich schon!

Glauben, Jesus, flöß' mir ein!

Sonst kann ich nicht seelig seyn!


Zweifel, Furchten, Sünden dringen

Auf die müde Seele zu!

Zum Gebeth muß ich mich zwingen;

Lieb und schrecklich bist mir Du![228]

Ach! ich Sünder, Gräuel, Fluch!

Finde Dich nicht, den ich such'!


Ach! und dennoch in der Nähe

Bist du, Christus, bist in mir!

Stets, wohin ich immer flöhe,

Lebt und schwebt mein Geist in Dir!

Aber! Ach! Dein Angesicht

Findt mein zweifelnd Auge nicht!


So kann ich nicht länger wanken;

Christus! Lieber tödte mich!

Doch! Sie hat, sie hat nicht Schranken

Deine Gnade! Hie bin ich!

Hier – und werfe, wie ich bin,

Mich zu Deinen Füßen hin!


Nicht empor zum Himmel schwingen

Darf ich mich; von Gottes Thron

Christum erst herunterzwingen!

Auferwecken nicht den Sohn!

Nah, in meinem Munde schwebt

Er, der lebet und belebt3!


Glauben, Glauben ströme, Jesus,

Meiner Seele mächtig ein!

Ganz und bald und heut, o Jesus,

Laß mein Herz sich Deiner freun!

Ach! Bey Deiner Macht und Treu!

Mach mich Hartgebundnen frey!


Ach! Erlösung dürst' ich! Schenke

Vater, mir des Sohnes Geist![229]

Der mit Licht und Kraft mich tränke,

Lehre thun, was Gott mich heißt!

Ziehe mich mit Glauben an,

Daß ich Ihn erflehen kann!


Ach! Entflamme mein Bestreben,

Ewig nun Dein Kind zu seyn!

Mich im Tode, mich im Leben,

Ewig Deiner nur zu freun!

Fest umfassen laß mich Dich!

Sey mein Leben! Todt bin ich!


Izt, in dieser, dieser Stunde

Mache durch den Sohn mich frey!

Daß im Herzen, daß im Munde

Gottes Geist lebendig sey!

Izt, ach izt, laß Dich erflehn,

Mich in Gnaden anzusehn!


Gnädig bist Du schon mir! Liebe

Bist Du, Vater, in dem Sohn!

Glaubt' ich nur an Dich, o Liebe

Heilig, seelig wär' ich schon!

Schon erlöst, erlöst bin ich!

Glaub' ich, Jesus, nur an Dich!


Fußnoten

1 Anmerkung Lavaters: »Vater-Blicke Gottes winken: Der väterlich-liebreiche Gott blickt mich an, winkt mir, ruft mich zu sich«.


2 Anmerkung Lavaters: »Ausgegossen: Allgegenwärtig, allesdurchdringend«!


3 Anmerkung Lavaters: »Diese ganze Strophe spricht von der allgegenwärtigen Wirksamkeit Christi, die uns immer umgiebt, und die wir denselben Augenblick erfahren, sobald wir an dieselbe glauben«.


Quelle:
Johann Kaspar Lavater: Ausgewählte Werke. Band 2, Zürich 1943, S. 227-230.
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