Frühling

[780] Es läßt der Frühling über seine Welt

Ein stilles Meer von Blütendüften wallen;

Ist's auch ein Lenzhauch, was sich dreingesellt,

Der Moderduft von jenen, die gefallen?


O Menschengeist, wie bist du zu beweinen!

Hättst du nicht so unselig und entschieden

Natur, dein Lieb, verlassen und gemieden,

So würde auch dein Lenz so hold erscheinen.

Wie würden deine Lieder wonnig rauschen

Und Rosen aus geweihten Herzen sprießen;

Erwachen würde, wo sie sich erschließen,

Ein tiefes Atmen und ein selig Lauschen.

Nun aber ist dein Lenz ein tödlich Pochen,

Verheerend ist dein Eisgang aufgebrochen.


Dem einzlen ist, was er versäumt, verloren;

Der Menschheit auch, was einmal sie verscherzt;

Kein Augenblick wird zweimal ihr geboren,

So herb es auch die Weltgeschichte schmerzt.

O Geist, ist deinem Lenz die Lust genommen,

Sei du der Welt in Schrecken auch willkommen!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 780.
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Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe / Versepen 2. Savonarola, Die Albigenser, Don Juan, Helena