3. Taman.

[73] Von allen russischen Seestädten ist Taman unbedingt die erbärmlichste. Ich wäre in diesem Nest beinah Hungers gestorben und wenig hätte gefehlt, so hätte man mich dort ersäuft.

Ich kam spät in der Nacht mit einem Postfuhrwerk an. Der Kutscher hielt mit seinem ermüdeten Dreigespann vor dem Hofthor des einzigen steinernen Hauses, das sich in der Vorstadt befindet.

Die Schildwache, ein Kosak vom schwarzen Meer, schrie, als sie den Ton des Postglöckchens vernahm, mit einer vor Verschlafenheit heiseren Stimme »Werda!«

Der Kosakenunteroffizier und der Corporal kamen heraus. Ich sagte ihnen, daß ich Offizier sei, in Regierungsangelegenheiten reise und als solcher Anspruch auf ein Quartier habe.

Der Corporal führte uns in der ganzen Stadt umher; zu welcher Isba1 wir auch kamen, – sie waren alle[73] besetzt. Es war sehr kalt; schon drei Nächte hatte ich nicht geschlafen; ich war sehr müde, und so begann ich ärgerlich zu werden.

»So führe mich doch endlich wohin!« rief ich; »und wär' es auch zum Teufel! Wenn ich nur irgendwo ein Lager finde.«

»Da wäre wol noch so eine Hütte,« antwortete der Corporal und kratzte sich hinter den Ohren; »nur wird sie Euer Wohlgeboren nicht gefallen; es ist dort nicht sauber!«

Ohne über die eigentliche Bedeutung des letztern Wortes nachzudenken, befahl ich ihm, mich dorthin zu führen, und nach einer langen Wanderung durch schmutzige Gassen, an deren beiden Seiten ich weiter nichts als alte verfallene Bretterzäune gewahrte, kamen wir endlich zu einer kleinen, unmittelbar am Gestade des Meeres gelegenen Hütte.

Der Vollmond beschien das Schilfdach und die weißen Wände meines neuen Quartiers. Auf dem Hofe, der von einer Art Mauer aus Kieselsteinen umgeben war, gewahrte ich noch eine andere, viel kleinere und viel ältere Hütte. Von dort neigte sich der Boden fast ganz steil dem Meere zu, das ein ununterbrochenes Gemurmel vernehmen ließ und mit seinen dunkelblauen Wellen fast die Mauern dieser Wohnung bespülte.

Der Mond betrachtete ruhig das aufgeregte, aber seinem Einfluß unterworfene Element, und ich vermochte bei seinem Schein in ziemlich weiter Entfernung vom Ufer zwei Schiffe zu unterscheiden, deren schwarzes Segelwerk sich wie ein Spinngewebe an dem blassen Himmel abzeichnete.

»Da liegen Schiffe vor Anker,« dachte ich; »das kommt mir gelegen; morgen kann ich nach Gelendschik weiterreisen.«

Ein Kosak von der Linie versah bei mir die Functionen eines Dieners. Ich befahl ihm, meinen Koffer hereinzubringen und den Kutscher zurückzuschicken; dann begann ich nach dem Besitzer des Hauses zu rufen.[74]

Keine Antwort.

Ich klopfe – dasselbe Schweigen ... Was bedeutet denn das? Ich klopfe von neuem, und da seh' ich endlich aus dem Hausflur einen Knaben von etwa vierzehn Jahren herauskommen.

»Wo ist der Besitzer dieses Hauses?«

»Ist nicht,« wird mir auf Kleinrussisch geantwortet.

»Wie! Es gibt hier gar keinen Herrn?«

»Nein!«

»Und die Herrin?«

»Die ist ins Dorf gegangen.«

»Wer wird mir denn die Thür öffnen?« rief ich, indem ich mit dem Fuße dagegen stieß.

Aber die Thür ging von selbst auf, und aus dem Innern der Hütte strömte mir ein feuchter Dunst entgegen.

Ich strich ein Zündhölzchen an und hielt es dem Knaben unter die Nase: das Licht beschien zwei weiße Augen. Er war blind, von Geburt an vollständig blind. Er stand unbeweglich vor mir, und ich begann die Züge seines Gesichts zu mustern.

Ich muß gestehen, ich habe eine starke Abneigung gegen alle Blinden, Einäugigen, Tauben, Stummen, Lahmen, Einarmigen, Buckligen u.s.w. Ich habe bemerkt, daß immer eine gewisse merkwürdige Beziehung besteht zwischen dem Aeußern des Menschen und seiner Seele, – als ob durch den Verlust eines Gliedes auch die Seele die eine oder die andere Fähigkeit eingebüßt hätte.

Ich begann also das Gesicht des Blinden zu untersuchen; aber was kann man in einem Gesicht lesen, das nicht durch Augen belebt wird? ... Lange betrachtete ich es mit einem unwillkürlichen Gefühl des Mitleids, als plötzlich ein kaum merkliches Lächeln über seine dünnen Lippen zuckte, das, ich weiß nicht warum, einen höchst unangenehmen Eindruck auf mich machte. Der Gedanke ging mir durch den Kopf, dieser Blinde könnte doch wol nicht so[75] blind sein, als es scheine. Vergebens sagte ich mir, daß es unmöglich sei, Blindheit zu heucheln und zudem, zu welchem Zweck? Aber ich kann mir nicht helfen – das Vorurtheil siegt bei mir mitunter über den Verstand ...

»Bist du der Sohn der Herrin vom Hause?« fragte ich endlich den Knaben.

»Nein!«

»Wer bist du denn?«

»Eine arme Waise.«

»Und hat die Herrin Kinder?«

»Nein, sie hatte eine Tochter; aber die ist mit einem Tataren über das Meer entflohen.«

»Wer war dieser Tatar?«

»Ja, wer weiß das! Ein Tatar aus der Krim – ein Schiffer aus Kertsch.«

Ich trat in die Hütte. Zwei Bänke, ein Tisch und ein großer Schrank neben dem Ofen bildeten das ganze Mobiliar. Nicht ein einziges Heiligenbild an der Wand – ein böses Zeichen! Durch die zerbrochenen Scheiben blies die Seebrise.

Ich nahm ein Wachslicht aus meinem Koffer, zündete es an und begann auszupacken. In die eine Ecke stellte ich mein Gewehr, auf den Tisch legte ich die Pistolen. Dann hüllte ich mich in meine Burka und streckte mich auf eine Bank aus, während mein Kosak sich auf einer andern einrichtete. Nach zehn Minuten schnarchte er ... aber ich vermochte nicht einzuschlafen: Mir war, als ob vor mir in der Dunkelheit sich fortwährend die blinde Waise mit den weißen Augen hin und herbewege.

So verstrich etwa eine Stunde. Der Mond schien durch das Fenster, und sein Licht spielte auf den Dielen der Stube. Plötzlich huscht ein Schatten über die mondbeleuchtete Stelle des Zimmers. Ich stehe auf und blicke durchs Fenster. Eine menschliche Gestalt eilt zum zweiten Mal an demselben vorüber und verschwindet, Gott weiß[76] wohin. Ich konnte nicht voraussetzen, daß dieselbe an der Böschung des Ufers entlang entschlüpft sei; und doch war kein anderer Ausweg vorhanden. Ich warf sofort meinen Beschmet um, ergriff meinen Dolch und ging ganz leise aus der Hütte, – und da begegnet mir der kleine Blinde.

Ich verbarg mich hinter dem Zaune, und er ging sicher aber vorsichtig an mir vorüber. Unter dem Arm trug er etwas wie ein Bündel; und auf den Hafen zugehend, schritt er über einen schmalen steilen Fußpfad hinab.

An diesem Tage, dachte ich bei mir, werden die Stummen reden und die Blinden sehen, und ich folgte ihm aus einiger Entfernung, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Mittlerweile begann der Mond sich mit Wolken zu bedecken, und über das Meer breitete sich dichter Nebel aus; kaum vermochte man durch denselben die Schiffslaterne auf dem Hintertheil eines nahen Schiffes zu unterscheiden; die weißlichen Wellen schlugen schäumend gegen das Ufer und drohten jeden Augenblick den Knaben zu verschlingen. Nur mit Mühe vermochte ich ihm auf unserm abschüssigen Wege zu folgen. Da blieb er einen Augenblick stehen, dann wandte er sich nach rechts. Er schritt so nahe am Wasser hin, daß es schien, als würde ihn jeden Augenblick eine Welle erfassen und mit sich fortreißen. Aber offenbar war dies nicht sein erster Gang, nach der Sicherheit zu urtheilen, mit welcher er von Stein zu Stein schritt und den Abgrund vermied. Endlich blieb er von neuem stehen, als hätte er irgend ein Geräusch gehört, setzte sich auf die Erde und legte sein Bündel neben sich. Hinter einem vorspringenden Felsen stehend, beobachtete ich alle seine Bewegungen. Einige Minuten verstreichen. Da erscheint in der entgegengesetzten Richtung eine weiße Gestalt. Sie nähert sich dem Blinden und setzt sich neben ihn. Der Wind ist mir günstig: er trägt mir von Zeit zu Zeit ihr Gespräch zu.[77]

»Welch ein heftiger Sturm!« sagte eine Frauenstimme. »Janko wird nicht kommen.«

»Janko fürchtet den Sturm nicht,« antwortete der Blinde.

»Aber der Nebel wird immer dichter,« entgegnete die Frauenstimme mit einem Ausdruck von Traurigkeit.

»Bei Nebelwetter ist es viel leichter die Schiffswache zu täuschen,« war die Antwort.

»Und wenn er ertrinkt?«

»Nun – dann gehst du nächsten Sonntag ohne das neue Band zur Kirche.«

Es trat ein Schweigen ein. Ein Umstand fiel mir sofort auf: Mit mir hatte der Blinde Kleinrussisch gesprochen; jetzt dagegen drückte er sich in reinem Russisch aus.

»Siehst du wol, daß ich Recht hatte,« nahm der Blinde wieder das Wort und klatschte in die Hände. »Janko fürchtet weder das Meer noch den Sturmwind, weder den Nebel noch die Küstenwache. Horch! das ist nicht das Klatschen der Wellen; nein, ich täusche mich nicht, – das sind seine langen Ruderstangen.«

Die Frau sprang auf und schaute unruhig in die Ferne.

»Du träumst, Junge,« sprach sie. »Ich sehe nichts.«

Ich bemühte mich ebenfalls in der Ferne etwas wie einen Kahn zu entdecken; aber es gelang mir nicht. So vergingen zehn Minuten; da zeigte sich zwischen dem Wellenberge ein schwarzer Punkt: Bald vergrößerte er sich, bald wurde er kleiner. Nach und nach unterschied ich eine Barke, die bald oben auf den Wellenkämmen schwebte, bald neben ihnen hinschoß und sich rasch dem Ufer näherte. Es mußte ein verwegener Schiffer sein, der in einer solchen Nacht seinen Kahn über einen Meeresarm von zwanzig Werst Breite zu führen wagte, und ein wichtiger Grund mußte es sein, der ihn einer solchen Gefahr trotzen ließ.

Mit diesem Gedanken beschäftigt, folgte ich mit unwillkürlichem Herzklopfen den Bewegungen des armen Kahns. Er tauchte bald wie eine Ente unter, bald erhob er sich[78] plötzlich wieder durch einen geschickten Ruderschlag und wiegte sich auf den schäumenden Wellen über dem Abgrunde. Da auf einmal schien es mir, als würde er gegen das Ufer geschleudert und drohe in tausend Stücke zertrümmert zu werden, – aber die Barke machte sehr geschickt eine Seitenwendung und schlüpfte sicher und wohlbehalten in eine kleine Bucht.

Es stieg ein Mann von mittlerer Größe aus, der nach Art der Tataren eine Lammfellmütze trug. Er winkte mit der Hand – und alle drei begannen irgend einen Gegenstand aus dem Kahn zu ziehen. Der Gegenstand war so schwer, daß ich jetzt noch nicht begreife, wie die Barke ihn hatte tragen können. Jeder von ihnen nahm einen Theil der Ladung auf seine Schulter, sie entfernten sich am Ufer entlang und waren bald meinen Blicken entschwunden.

Mir blieb weiter nichts übrig, als in meine Hütte zurückzukehren; aber ich gestehe, alle diese seltsamen Dinge hatten mich so aufgeregt, daß ich mit großer Ungeduld den Morgen erwartete.

Mein Kosak war ganz erstaunt, als er mich beim Erwachen vollständig angekleidet fand. Allein ich erzählte ihm nichts von meinem nächtlichen Spaziergange. Nachdem ich eine Zeit lang durch das Fenster den blauen, hin und wieder mit leichten Wolken bedeckten Himmel und das ferne Gestade der Krim betrachtet, das sich am Horizont wie ein violettes Band hinzieht und mit einem Felsen endet, auf dessen Spitze sich der Leuchtthurm erhebt, begab ich mich nach dem Fort Fanagori, um mich bei dem Commandanten zu erkundigen, wann ich nach Gelendschik abfahren könnte.

Ader leider vermochte mir der Commandant nichts Bestimmtes zu sagen. Die Schiffe, welche in dem Hafen lagen, waren sämmtlich entweder Wacht- oder Kauffahrteischiffe, die man noch nicht einmal zu laden begonnen.

»Vielleicht,« setzte der Commandant hinzu, »kommt in[79] drei oder vier Tagen ein Postschiff, und dann werden wir sehen.«

Unmuthig, schlecht gelaunt kehrte ich in mein Quartier zurück. Auf der Schwelle trat mir mit ganz erschrecktem Gesicht mein Kosak entgegen.

»Eine böse Geschichte!« sagte er zu mir.

»Ja wol, Freund!« erwiderte ich. »Weiß Gott, wann wir von hier fortkommen!«

Diese Worte schienen seine Unruhe noch zu vermehren. Er näherte sich mir und flüsterte mir ins Ohr:

»Es ist hier nicht sauber! Ich traf hier heut Morgen einen Corporal vom schwarzen Meer, mit dem ich bekannt bin, – wir standen voriges Jahr bei demselben Regiment.« Als ich ihm sagte, wo wir in Quartier lägen, da sprach er zu mir:

»Da, Freundchen, ist es nicht sauber, – gefährliche Leute! ... Und in der That, was ist das für eine Geschichte mit diesem Blinden! ... Ueberall geht er allein hin: nach dem Markt, zu dem Bäcker, nach dem Brunnen ... Es scheint, hier ist man an so etwas gewöhnt.«

»Und hat sich wenigstens die Wirthin gezeigt?«

»Ja, heut Morgen, als Sie ausgegangen waren, kam eine Alte mit ihrer Tochter.«

»Was für eine Tochter? Sie hat keine Tochter.«

»Dann weiß ich nicht, wer sie ist, wenn sie nicht ihre Tochter ist; aber da sitzt die Alte jetzt in ihrer Hütte.«

Ich trat ein. In dem Ofen brannte ein tüchtiges Feuer und auf demselben ward ein Mahl bereitet, das für arme Leute nichts zu wünschen übrig ließ.

Auf alle meine Fragen antwortete die Alte, sie höre nichts, sie sei taub. Was sollte ich mit ihr anfangen? Ich wandte mich an den blinden Knaben, der vor dem Ofen saß und Zweige ins Feuer warf.

»Und du, blindes Teufelchen« sagte ich zu ihm, indem ich ihn am Ohr faßte, »sag' mal, wo bist du denn heut'[80] Nacht mit dem Bündel unter dem Arm herumgestrichen? ... Sprich!«

Da begann der Kleine plötzlich zu weinen und zu seufzen und antwortete schluchzend:

»Wo ich heut' Nacht hingewesen? ... Nirgends bin ich hingewesen ... Mit einem Bündel? ... mit was für einem Bündel?«

Diesmal hatte die Alte sehr gut gehört, und sie begann zu murmeln:

»Was fällt Ihnen denn ein! Und sich da noch an einem unglücklichen armen Kinde vergreifen! Was wollen Sie von ihm? Was hat er Ihnen denn gethan?«

Diese Komödie langweilte mich, und ich ging wieder hinaus, fest entschlossen, den Schlüssel zu diesem Räthsel zu finden.

Ich wickelte mich in meine Burka und setzte mich vor der Thür auf einen Stein und ließ meine Blicke in die Ferne schweifen. Vor mir dehnte sich das Meer aus, das von dem nächtlichen Sturm noch in Aufregung war. Das eintönige Gemurmel der Wellen glich dem Gesumme einer entschlummernden Stadt; es rief alte Erinnerungen in mir wach und versetzte mich in Gedanken nach dem Norden in unsere kalte Hauptstadt. Ich überließ mich meinen Gedanken und versank in Träumerei ...

Etwa eine Stunde war so verstrichen; vielleicht auch mehr ... Plötzlich tönt etwas wie Gesang an mein Ohr. Ja, es war Gesang, – und eine so frische weibliche Stimme ... Aber von woher kam sie? ... Ich höre aufmerksam zu. Die Melodie ist ganz rein; bald langsam und traurig, bald rasch und lebhaft. Ich blicke mich um – ringsumher kein Mensch! Ich lausche von neuem – es ist, als kämen die Töne vom Himmel herab. Ich richte die Augen empor – und da sehe ich auf dem Dach der Hütte ein Mädchen in einem gestreiften Kleide mit tief herabfallendem Haar – eine wahre Russalka.[81]

Die eine Hand hatte sie über die Augen gelegt, um sie vor den hellen Sonnenstrahlen zu schützen. Unverwandt schaute sie in die Ferne, bald mit sich selbst redend und vor sich hinlächelnd, bald ihren Gesang fortsetzend.

Ihr Lied ist mir treu im Gedächtnis geblieben:


Schnell flieget das Schifflein

Wie Jägers Speer

Hin über das freie,

Das grünliche Meer.


Kein prunkender Name

Verzieret den Bug,

Doch kennen es Alle

Am sicheren Flug.


Sie kennen es Alle,

Doch keiner wie ich,

Und naht es dem Strande,

So findet es mich.


Und stößt es vom Ufer,

So weilet mein Fuß

Am Felsengestade, –

Es folgt ihm mein Gruß.


Wenn stürmisch brandet

Die wogende See,

Dann fliehn die Fregatten

Zur Meereshöh';


Dann fleh' ich zum Meere:

Verschone sein Schiff,

O trage es glücklich

Um's fährliche Riff!


Verschlinge die Waaren,

Die reichlich es führt, –

Nur schone des Fährmanns,

Der kühn es regiert.


Es wollte mir scheinen, als ob ich diese selbe Stimme in der vorhergehenden Nacht schon gehört hätte. Diesem Gedanken hing ich einen Augenblick nach und blickte dann wieder zu dem Dache hinauf. Das Mädchen war verschwunden.[82] Plötzlich eilte sie, irgend eine andere Weise summend, an mir vorbei und huschte, mit den Fingern schnalzend, hinein zu der Alten. Und da begann zwischen ihnen ein Disput. Die Alte wurde böse; das Mädchen lachte hell auf. Da sehe ich meine Undine plötzlich wieder davonhüpfen. Als sie meiner ansichtig wird, bleibt sie stehen und blickt mir fest in die Augen, als sei sie über meine Anwesenheit erstaunt. Darauf wendet sie sich gleichgiltig ab und geht langsamen Schrittes auf das Ufer zu.

Aber damit war es noch nicht zu Ende. Während des ganzen übrigen Tages drehte sie sich um mein Quartier herum, in einem fort singend und hüpfend. Seltsames Wesen! Ihre Gesichtszüge zeigten durchaus keine Spur einer Geistesstörung. Im Gegentheil, sie richtete mit solcher Keckheit ihre durchdringenden Augen auf mich! ... und diese Augen schienen eine magnetische Kraft auf mich auszuüben und beständig irgend eine Frage zu erwarten. Aber sobald ich ein Gespräch anknüpfen wollte, entfloh sie mit einem boshaften Lächeln.

Ein solches Mädchen hatte ich wirklich noch nie gesehen. Man konnte sie durchaus nicht schön nennen; aber auch im Punkte der Schönheit habe ich meine eigenen Ansichten. Es war viel Rasse an ihr ... und bei den Frauen wie bei den Pferden ist die Rasse etwas sehr Wichtiges; übrigens verdanken wir diese Entdeckung der jungen französischen Poetenschule. Man erkennt sie – das heißt die Rasse, nicht die junge französische Poetenschule – vorzugsweise am Schritt, an der Form der Hände und Füße; auch die Nase spielt hier eine sehr wichtige Rolle. Regelmäßige Nasen sind in Rußland weit seltener als kleine Füße.

Meine Sängerin schien kaum achtzehn Jahre zu zählen. Eine außerordentliche Schmiegsamkeit des Körpers, ihre ungewöhnlichen, nur ihr eigenthümlichen Kopfbewegungen, ihr langes blondes Haar, das wie eine goldschimmernde Flut auf den Hals und die leichtgebräunten Schultern[83] herabfloß, und vor allem ihre regelmäßige Nase – das Alles hatte für mich etwas Bezauberndes.

Mochte ich auch in ihrem Seitenblick etwas Wildes und Verdächtiges lesen, mochte in ihrem Lächeln auch etwas Gezwungenes liegen – das Vorurtheil trug den Sieg davon: die schönen Linien ihrer Nase brachten meinen Verstand zum Schweigen; und ich bildete mir ein, Goethe's Mignon, dieser wunderlichen Schöpfung der deutschen Phantasie begegnet zu sein. Und in der That, diese beiden Wesen hatten viel Gemeinsames: Derselbe rasche Uebergang von der größten Aufregung zur vollkommensten Ruhe und Unbeweglichkeit; dieselben räthselhaften Reden, dieselben seltsamen Lieder ... Als ich gegen Abend meine Undine an der Thür zum Stehen brachte, hatte ich folgendes Gespräch mit ihr:

»Sage mir, mein schönes Kind,« sagte ich, »was machtest du heut' auf dem Dach?«

»Ich wollte sehen, woher der Wind wehte!«

»Warum denn?«

»Woher der Wind weht, daher kommt das Glück.«

»Und wolltest du mit deinem Singen das Glück herbeirufen?«

»Wo man singt, da ist man glücklich.«

»Aber wenn dein Gesang das Unglück herbeiriefe?«

»Was läge daran? Geht's nicht gut, so geht es schlimm, und vom Schlimmen zum Guten ist's wieder nur ein kurzer Weg.«

»Wer hat dich deine Lieder gelehrt?«

»Niemand. Ich denke nach – und singe; wer mich verstehen soll, wird mich schon hören, und wer mich nicht hören soll, wird mich auch nicht begreifen.«

»Wie heißt du, meine schöne Sängerin?«

»Wer mich getauft hat, weiß es schon.«

»Und wer hat dich getauft?«

»Das weiß ich nicht.«[84]

»Aha, du spielst die Geheimnißvolle! Aber ich weiß doch schon etwas von dir.«

Nicht die geringste Bewegung ihres Gesichts, nicht das leiseste Zucken ihrer Lippen, – als ob von ihr gar nicht die Rede wäre.

»Ich weiß, daß du heut' Nacht am Ufer des Meeres gewesen bist.«

Und nun erzählte ich ihr ausführlich Alles, was ich gesehen; ich hoffte sie damit zu verwirren – weit gefehlt; sie begann aus voller Kehle zu lachen.

»Da haben Sie etwas sehr Wichtiges gesehen und wissen doch sehr wenig; aber was Sie wissen, das halten Sie nur ja hübsch hinter Schloß und Riegel.«

»Aber wenn ich es,« fuhr ich mit sehr ernster, fast strenger Miene fort, »wenn ich es etwa dem Commandanten anzeigte?«

Da begann sie zu hüpfen und zu singen und verschwand wie ein aufgescheuchtes Vögelchen.

Mit diesen letzteren Worten hatte ich eine Unvorsichtigkeit begangen. Damals ahnte ich noch nicht ihre Tragweite; aber später hatte ich gute Gründe, sie zu bereuen.

Sobald es dunkel zu werden begann, befahl ich meinem Kosaken, den Thee zu bereiten, steckte ein Licht an, setzte mich an den Tisch und rauchte meine Reisepfeife. Schon war ich bei meiner zweiten Tasse Thee, als plötzlich die Thür knarrt, – das leichte Rauschen eines Kleides und das Geräusch von Schritten dringt an mein Ohr; ich stehe rasch auf und wende mich um – sie ist es, meine Undine!

Langsam und ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich vor mich. Sie richtete ihre Augen auf mich, und der Blick derselben schien mir, ich weiß nicht warum, wunderbar zärtlich. Er erinnerte mich an andere Blicke, welche früher eine so mächtige Gewalt über mich gehabt hatten. Sie schien eine Frage zu erwarten; aber ich schwieg: eine unerklärliche Erregtheit hatte mir die Zunge gelähmt. Ihr[85] Antlitz war blaß und deutete auf eine große innere Unruhe hin, ihre Hand irrte ziellos über den Tisch, und ich bemerkte, daß sie leicht zitterte; ihre Brust hob sich bald heftig, bald schien sie den Athem zurückzuhalten.

Diese Komödie begann mich zu ärgern, und ich war im Begriff, das Schweigen in der prosaischsten Weise von der Welt zu brechen, das heißt ihr eine Tasse Thee anzubieten, – als sie plötzlich aufsprang, ihre Arme um meinen Hals schlang und einen feurigen Kuß auf meine Lippen drückte. Vor meinen Augen wurde es dunkel, der Kopf schwindelte mir, mit der ganzen Kraft jugendlicher Leidenschaft preßte ich sie in meine Arme; aber wie eine Schlange schlüpfte sie mir unter den Händen weg und raunte mir ins Ohr:

»Heut' Nacht, wenn Alles schläft, komm' ans Ufer.«

Und schnell wie ein Pfeil war sie aus dem Zimmer verschwunden – auf ihrer Flucht Theemaschine und Licht zu Boden schleudernd.

»Ist das ein Teufelsmädel!« rief mein Kosak, der sich auf dem Stroh ausgestreckt, und, um sich zu erwärmen, auf den Rest des Thees gerechnet hatte.

Dieser Ausruf brachte mich ein wenig wieder zur Besinnung ...

Zwei Stunden später, als draußen Alles ruhig war, weckte ich meinen Kosaken. »Wenn du einen Schuß hörst,« sagte ich zu ihm, »so eile rasch ans Ufer.«

Er rieb sich die Augen und antwortete mechanisch:

»Zu Befehl, Herr Lieutenant.«

Ich steckte meine Pistole in den Gürtel und ging hinaus.

Sie erwartete mich am Rande der Böschung. Ihre Kleidung war mehr als leicht, ein kleines Tuch war wie eine Schärpe um ihre schlanke Taille gebunden.

»Folgen Sie mir!« sagte sie und ergriff meine Hand.

Wir begannen an der Böschung herabzusteigen. Ich begreife nicht, wie es kam, daß ich mir nicht den Hals brach.[86] Am Fuße des Abhanges angekommen, wandten wir uns nach rechts und folgten demselben Pfade, auf welchem ich am vorhergehenden Abend dem Blinden nachgegangen war.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, und nur zwei kleine Sterne schimmerten gleich schützenden Leuchtthürmen an dem dunkelblauen Himmelsgewölbe. Schwere Wogen folgten einander in regelmäßigen Zwischenräumen und vermochten kaum einen einsamen am Ufer befestigten Kahn zu erheben.

»Steigen wir in diesen Kahn,« sprach meine Begleiterin.

Ich zauderte; denn offen gestanden, finde ich an sentimentalen Wasserfahrten wenig Geschmack. Aber es war bereits zu spät, noch umzukehren.

Sie sprang in den Kahn, ich folgte ihr, und ehe ich Zeit gehabt, über die Sache weiter nachzudenken, bemerkte ich, daß wir schon auf dem Wasser schwammen.

»Was bedeutet das?« sagte ich zornig.

»Das bedeutet,« antwortete sie, indem sie mich auf einer Bank Platz nehmen ließ und meine Taille mit ihren Armen umschlang, »das bedeutet, daß ich dich liebe ...«

Und ihre brennende Wange preßt sich an die meine, und ich fühle auf meinem Gesicht ihren heißen Athem. Plötzlich fällt etwas geräuschvoll ins Wasser – ich greife nach dem Gürtel – die Pistole ist fort ... Da stieg ein schrecklicher Verdacht in meinem Geiste auf, alles Blut stieg mir nach dem Kopfe! Ich blicke mich um – wir sind schon weit vom Ufer und ich kann nicht schwimmen! Ich will sie von mir stoßen – wie eine Katze klammert sie sich an meine Kleider, und plötzlich hätte sie mit einem heftigen Stoß mich beinah ins Meer gestürzt. Der Kahn begann bereits zu schwanken, aber ich gewann das Gleichgewicht wieder, – und nun begann zwischen uns ein verzweifelter Kampf. Der Zorn verdoppelt meine Kräfte, aber ich fühle bald, daß meine Gegnerin mir an Gewandtheit überlegen ist.[87]

»Was willst du denn!« schrie ich und preßte mit aller Macht ihre kleinen Hände. Ihre Finger krachen unter den meinen, aber sie stieß nicht einen einzigen Schrei aus; ihre Schlangennatur ertrug eine solche Tortur.

»Du hast uns gesehen,« antwortete sie; »du willst uns anzeigen.«

Und mit einer übernatürlichen Anstrengung warf sie mich auf den Rand des Kahnes; wir hängen beide bis zum Gürtel aus dem schwachen Fahrzeug heraus; ihre Haare schwimmen bereits auf dem Wasser; es war ein entscheidender Augenblick. Ich stemme meine Knie gegen den Boden des Kahnes, ergreife sie mit der einen Hand bei den Haaren, mit der andern bei der Kehle. Sie läßt endlich meine Kleider los und ich werfe sie ins Meer ...

Es war ziemlich finster; noch zweimal erschien ihr Kopf über den schäumenden Wellen, dann sah ich nichts mehr ...

Auf dem Boden des Kahnes fand ich ein altes Ruder, mit dessen Hilfe es mir nach langer Anstrengung endlich gelang, die Küste wieder zu gewinnen. Indem ich an dem Ufer entlang meiner Hütte zuschritt, wandte ich unwillkürlich den Blick zurück nach der Stelle, wo am vorhergehenden Abend der blinde Knabe den nächtlichen Schiffer erwartet hatte.

Der Mond stand bereits am Himmel, und es schien mir, als säße da am Ufer eine weiße Gestalt. Von Neugier getrieben, schlich ich durch das Gras an einer Art Vorsprung hinan. Ich erhob ein wenig den Kopf und da konnte ich von meiner Anhöhe aus ganz gut sehen, was unter mir vorging. Wie groß war mein Erstaunen – mein fast freudiges Erstaunen, als ich meine Russalka erkannte. Sie drückte sich den Meeresschaum aus ihrem langen Haar; ihr ganz nasses Kleid ließ ihre schlanke Taille und ihre hohe Brust deutlich hervortreten. In demselben Augenblick zeigte sich in der Ferne eine Barke, die sich ihr rasch näherte. Aus derselben sprang wie am Abend vorher[88] ein Mann mit einer Tatarenmütze, dessen Haare jedoch nach Kosakenart geschnitten waren und an dessen ledernem Gürtel ein großes Dolchmesser hing.

»Janko,« rief sie dem Schiffer zu, »Alles ist verloren.«

Dann begannen sie mit einander zu reden, aber so leise, daß ich nichts zu unterscheiden vermochte.

»Und wo ist der Blinde?« sagte endlich Janko, die Stimme erhebend.

»Er wird wol kommen ...« war die Antwort.

Nach einigen Augenblicken erschien in der That der blinde Knabe mit einem Packet auf dem Rücken, das er in den Kahn legte.

»Höre, Blinder,« sagte Janko; »bewache diese Stelle ... Du weißt ja ... da sind kostbare Waaren d'rin ... Sage dem – (ich konnte den Namen nicht verstehen) – daß ich nicht mehr in seinem Dienste wäre. Die Dinge haben eine böse Wendung genommen; er wird mich nicht wiedersehen; die Gefahr ist jetzt zu groß; ich muß jetzt anderswo Arbeit suchen; aber einen so verwegenen Burschen wie mich wird er nicht wieder finden. Du kannst ihm sagen, daß, wenn er die gefährliche Arbeit besser bezahlt hätte, Janko ihn nicht im Stich gelassen haben würde. Für mich sind alle Wege gut; wo der Wind heult und das Meer brüllt, da ist mein Revier!«

Nach einigen Augenblicken des Schweigens fuhr Janko fort:

»Sie geht mit mir; hier kann sie nicht länger bleiben; sage der Alten, sie habe ihre Zeit hinter sich und damit müsse sie zufrieden sein. Sie würde uns nicht wiedersehen.«

»Und ich,« fragte der Blinde mit klagender Stimme.

»Was gehst du mich an,« war die Antwort.

Inzwischen war meine Undine in den Kahn gesprungen, und sie winkte jetzt ihrem Begleiter. Dieser drückte dem Blinden etwas in die Hand und murmelte:

»Da, kauf' dir dafür ein Stück Kuchen.«[89]

»Weiter nichts?« sagte der blinde Knabe.

»Nun, da hast du noch etwas« – und ein Stück Geld fiel klirrend auf den felsigen Grund.

Der Blinde hob es nicht auf. Janko setzte sich in den Kahn; vom Ufer wehte der Wind; sie setzten ein kleines Segel auf und das kleine Fahrzeug flog rasch über die Wellen.

Noch lange folgten meine Augen beim Schein des Mondes dem weißen Segel, das sich von den dunklen Wellen abhob. Der Blinde saß noch immer am Gestade, und mir war es plötzlich, als hörte ich schluchzen ... Lange, lange weinte der blinde Knabe ... seine Traurigkeit ging mir zu Herzen.

Warum hatte mich denn das Schicksal in diesen friedlichen Kreis ehrlicher Schmuggler geworfen? Wie ein Stein, den man in eine klare Quelle wirft, die Oberfläche derselben trübt, habe ich ihr ruhiges Leben gestört, – und wie ein Stein wär' auch ich beinah auf den Grund hinunter gesunken.

Ich kehrte nach der Hütte zurück. Das Licht, das ich auf einen hölzernen Teller gestellt, war im Begriff zu erlöschen, und mein Kosak lag, seine Flinte in den Armen, trotz meines Befehls in tiefstem Schlaf. Ich wollte ihn nicht in seiner Ruhe stören, nahm das Licht und trat in die Hütte. Leider waren meine Schatulle, meine mit Silberborte eingefaßte Pelzmütze, sowie mein Dagestaner Dolch, das Geschenk eines Freundes, sämmtlich verschwunden. Da begriff ich, was in dem Packet gewesen, das der verfluchte Blinde in den Kahn gelegt. Ich weckte meinen Kosaken mit einem ziemlich unsanften Stoß, machte ihm Vorwürfe, ward wüthend – aber was sollt' ich machen! Und hätte ich mich nicht noch lächerlich gemacht, wenn ich mich beim Commandanten beschwert, daß ein blinder Knabe mich bestohlen, und ein achtzehnjähriges Mädchen mich beinah ertränkt hätte![90]

Glücklicherweise bot sich am folgenden Morgen Gelegenheit zur Abreise, und so verließ ich Taman. Was aus der Alten und dem armen Blinden geworden – ich weiß es nicht. Und was kümmern mich auch die Freuden und Leiden der Mitmenschen – mich, der ich in Offiziersuniform reise, und noch dazu versehen mit einem Paß der Regierung! ...

1

Bauernhütte.

Quelle:
Lermontoff, Michael: Ein Held unsrer Zeit. Leipzig [o. J.], S. 73-91.
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