Neun und dreißigstes Stück

[409] Den 11ten September, 1767


Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen, oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden, oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der Merope ist weder in dem einen, noch in dem andern Falle, so schlechterdings für eine vollkommene tragische Fabel zu[409] erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er eben so wohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muß erst untersucht werden, wo er das größere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklärung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln Teile derselben. Vielleicht war der Mißbrauch seines Ansehens bei dem Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, daß eine so vollkommene Fabel von einem so großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstück werden müssen.

Doch Tournemine und Tournemine – Ich fürchte, meine Leser werden fragen: »Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine.« Denn viele dürften ihn wirklich nicht kennen; und manche dürften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu.24

Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns, von dem verlornen Stücke des Euripides, die nämlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei. Auch er sagt, daß Aristoteles diesem Coup de Théatre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, daß er dieses Stück des Euripides für das rührendste von allen Stücken desselben gehalten habe.25 Dieses[410] letztere ist nun gänzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stücke, aus welchem er die Situation der Merope anführt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder wie es heißt, noch wer der Verfasser desselben sei; geschweige, daß er es für das rührendste von allen Stücken des Euripides erkläre.

Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei! Welche Ausdrücke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick, der ganzen griechischen Bühne! Sollte man hieraus nicht schließen: Aristoteles gehe mit Fleiß alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben könne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, unter einander ab, und tue endlich so dreist als sicher den Ausspruch für diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beispiele anführet; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand ähnliche Beispiele in der Iphigenia, wo die Schwester den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu vergehen.

Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermutet, auch die Helle ein Werk dieses Dichters gewesen: so wäre es doch sonderbar, daß Aristoteles alle drei Beispiele von einer solchen glücklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter gefunden hätte, der sich der unglücklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht ausschließt; und obschon in der Iphigenia die glückliche Erkennung auf die unglückliche Peripetie folgt, und das Stück überhaupt also glücklich sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine unglückliche Peripetie auf die glückliche Erkennung folgte, und sie also völlig in der Manier schlossen, durch die sich Euripides[411] den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern verdiente?

Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art möglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, läßt sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem Kresphontes übrig sind, nicht schließen. Sie enthalten nichts als Sittensprüche und moralische Gesinnungen, von spätern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und werfen nicht das geringste Licht auf die Ökonomie des Stückes.26 Aus dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Göttin des Friedens ist, scheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem Messenischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein Paar andern sollte man fast schließen, daß die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei ältern Söhne, entweder einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe, oder doch nur kurz vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des jüngern Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brüder zu rächen kam, nicht wohl zusammen reimet. Die größte Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des jüngern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen: wie konnte das Stück Kresphontes heißen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus, und nach andern Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte, und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde führte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muß längst tot sein, wenn sich der Sohn des väterlichen Reiches wieder bemächtiget. Hat man jemals gehört, daß ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkömmt? Corneille und Dacier haben sich geschwind über diese Schwierigkeit hinweg zu setzen gewußt,[412] indem sie angenommen, daß der Sohn gleichfalls Kresphont geheißen;27 aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? aus welchem Grunde?

Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so können wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn nämlich bei dem Hyginus, in der hundert und vier und achtzigsten Fabel, gefunden zu haben.28 Denn er hält die Fabeln des Hyginus überhaupt, größten Teils für nichts, als für die Argumente alter Tragödien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius gewesen war; und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rat ist nicht übel, und zu befolgen. Auch hat ihn mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, daß er ihn gegeben. Herr Weiß hat den Stoff zu seinem Thyest aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verständiges Auge. Nur möchte es nicht der größte, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Teil sein,[413] der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragödien zusammen gesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragödienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation gemacht, scheinet selbst, die Tragödien als abgeleitete verdorbene Bäche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwürdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdrücklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzählt er, z. E. die Fabel von der Ino, und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser, und darauf in einem besondern Abschnitte, nach der Behandlung des Euripides.

24

Lettres familières.

25

Aristote, dans sa Poëtique immortelle, ne balance pas à dire que la reconnoissance de Merope et de son fils étaient le moment le plus interessant de toute la scène Grecque. Il donnait à ce coup de Théatre la preferance sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si sensible, fremissaient de crainte que le vieillard, qui devait arrêter le bras de Merope, n'arrivât pas assez-tot. Cette pièce, qu'on jouait de son tems, et dont il nous reste tres peu de fragmens, lui paraissait la plus touchante de toutes les tragedies d'Euripide etc. Lettre à Mr. Maffei.

26

Dasjenige, welches Dacier anführet, (Poetique d'Aristote, Chap. XV. Rem. 23.) ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem Plutarch in der Abhandlung, Wie man seine Feinde nützen solle.

27

Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poet. d'Arist. Une Mere, qui va tuer son fils, comme Merope va tuer Cresphonte etc.

28

Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184 d'Igino, la quale a mio credere altro non è, che l'Argomento di quella Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch' io feci già in quell' Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le più di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di eiò col confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi é stato caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal sentimento. Una miniera é però questa di Tragici Argomenti, che se fosse stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a lor fantasia: io la scoprirò loro di buona voglia, perchè rendano col loro ingegno alla nostra età ciò, che dal tempo invidioso le fu rapito. Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto più di considerazione quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non è stato creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori della favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole costui narrate sceondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso convertendole, le avean ridotte.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 409-414.
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