Vierter Auftritt


[248] Szene: vor dem Hause des Nathan, wo es an die Palmen stößt.

Recha und Nathan kommen heraus. Zu ihnen Daja.


RECHA.

Ihr habt Euch sehr verweilt, mein Vater. Er

Wird kaum noch mehr zu treffen sein.

NATHAN.

Nun, nun;

Wenn hier, hier untern Palmen schon nicht mehr:

Doch anderwärts. – Sei itzt nur ruhig. – Sieh!

Kömmt dort nicht Daja auf uns zu?

RECHA.

Sie wird

Ihn ganz gewiß verloren haben.

NATHAN.

Auch

Wohl nicht.

RECHA.

Sie würde sonst geschwinder kommen.

NATHAN.

Sie hat uns wohl noch nicht gesehn ...

RECHA.

Nun sieht

Sie uns.

NATHAN.

Und doppelt ihre Schritte. Sieh! –

Sei doch nur ruhig! ruhig!

RECHA.

Wolltet Ihr

Wohl eine Tochter, die hier ruhig wäre?

Sich unbekümmert ließe, wessen Wohltat

Ihr Leben sei? Ihr Leben, – das ihr nur

So lieb, weil sie es Euch zu erst verdanket.

NATHAN.

Ich möchte dich nicht anders, als du bist:

Auch wenn ich wüßte, daß in deiner Seele

Ganz etwas anders noch sich rege.

RECHA.

Was,

Mein Vater?

NATHAN.

Fragst du mich? so schüchtern mich?

Was auch in deinem Innern vorgeht, ist

Natur und Unschuld. Laß es keine Sorge

Dir machen. Mir, mir macht es keine. Nur

Versprich mir: wenn dein Herz vernehmlicher[248]

Sich einst erklärt, mir seiner Wünsche keinen

Zu bergen.

RECHA.

Schon die Möglichkeit, mein Herz

Euch lieber zu verhüllen, macht mich zittern.

NATHAN.

Nichts mehr hiervon! Das ein für allemal

Ist abgetan. – Da ist ja Daja. – Nun?

DAJA.

Noch wandelt er hier untern Palmen; und

Wird gleich um jene Mauer kommen. – Seht,

Da kömmt er!

RECHA.

Ah! und scheinet unentschlossen,

Wohin? ob weiter? ob hinab? ob rechts?

Ob links?

DAJA.

Nein, nein; er macht den Weg ums Kloster

Gewiß noch öfter; und dann muß er hier

Vorbei. – Was gilts?

RECHA.

Recht! recht! – Hast du ihn schon

Gesprochen? Und wie ist er heut?

DAJA.

Wie immer.

NATHAN.

So macht nur, daß er euch hier nicht gewahr

Wird. Tretet mehr zurück. Geht lieber ganz

Hinein.

RECHA.

Nur einen Blick noch! – Ah! die Hecke,

Die mir ihn stiehlt.

DAJA.

Kommt! kommt! Der Vater hat

Ganz recht. Ihr lauft Gefahr, wenn er Euch sieht,

Daß auf der Stell' er umkehrt.

RECHA.

Ah! die Hecke!

NATHAN.

Und kömmt er plötzlich dort aus ihr hervor:

So kann er anders nicht, er muß euch sehn.

Drum geht doch nur!

DAJA.

Kommt! kommt! Ich weiß ein Fenster,

Aus dem wir sie bemerken können.

RECHA.

Ja?


Beide hinein.[249]


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 248-250.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nathan der Weise
Nathan der Weise
Nathan der Weise: Studienausgabe
Nathan der Weise: Handreichungen für den Unterricht. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen
Nathan der Weise: Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (Suhrkamp BasisBibliothek)
Nathan der Weise

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon