Fünfter Auftritt


[272] Saladin und Nathan.


SALADIN.

Tritt näher, Jude! – Näher! – Nur ganz her! –

Nur ohne Furcht!

NATHAN.

Die bleibe deinem Feinde!

SALADIN.

Du nennst dich Nathan?

NATHAN.

Ja.

SALADIN.

Den weisen Nathan?

NATHAN.

Nein.

SALADIN.

Wohl! nennst du dich nicht; nennt dich das Volk.

NATHAN.

Kann sein; das Volk!

SALADIN.

Du glaubst doch nicht, daß ich

Verächtlich von des Volkes Stimme denke? –

Ich habe längst gewünscht, den Mann zu kennen,

Den es den Weisen nennt.

NATHAN.

Und wenn es ihn

Zum Spott so nennte? Wenn dem Volke weise

Nichts weiter wär' als klug? und klug nur der,

Der sich auf seinen Vorteil gut versteht?

SALADIN.

Auf seinen wahren Vorteil, meinst du doch?

NATHAN.

Dann freilich wär' der Eigennützigste[272]

Der Klügste. Dann wär' freilich klug und weise

Nur eins.

SALADIN.

Ich höre dich erweisen, was

Du widersprechen willst. – Des Menschen wahre

Vorteile, die das Volk nicht kennt, kennst du.

Hast du zu kennen wenigstens gesucht;

Hast drüber nachgedacht: das auch allein

Macht schon den Weisen.

NATHAN.

Der sich jeder dünkt

Zu sein.

SALADIN.

Nun der Bescheidenheit genug!

Denn sie nur immerdar zu hören, wo

Man trockene Vernunft erwartet, ekelt.


Er springt auf.


Laß uns zur Sache kommen! Aber, aber

Aufrichtig, Jud', aufrichtig!

NATHAN.

Sultan, ich

Will sicherlich dich so bedienen, daß

Ich deiner fernern Kundschaft würdig bleibe.

SALADIN.

Bedienen? wie?

NATHAN.

Du sollst das Beste haben

Von allem; sollst es um den billigsten

Preis haben.

SALADIN.

Wovon sprichst du? doch wohl nicht

Von deinen Waren? – Schachern wird mit dir

Schon meine Schwester. (Das der Horcherin!) –

Ich habe mit dem Kaufmann nichts zu tun.

NATHAN.

So wirst du ohne Zweifel wissen wollen,

Was ich auf meinem Wege von dem Feinde,

Der allerdings sich wieder reget, etwa

Bemerkt, getroffen? – Wenn ich unverhohlen ...

SALADIN.

Auch darauf bin ich eben nicht mit dir

Gesteuert. Davon weiß ich schon, so viel

Ich nötig habe. – Kurz; –

NATHAN.

Gebiete, Sultan.

SALADIN.

Ich heische deinen Unterricht in ganz

Was anderm; ganz was anderm. – Da du nun

So weise bist: so sage mir doch einmal –

Was für ein Glaube, was für ein Gesetz[273]

Hat dir am meisten eingeleuchtet?

NATHAN.

Sultan,

Ich bin ein Jud'.

SALADIN.

Und ich ein Muselmann.

Der Christ ist zwischen uns. – Von diesen drei

Religionen kann doch eine nur

Die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da

Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt

Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt,

Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.

Wohlan! so teile deine Einsicht mir

Dann mit. Laß mich die Gründe hören, denen

Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit

Gehabt. Laß mich die Wahl, die diese Gründe

Bestimmt, – versteht sich, im Vertrauen – wissen,

Damit ich sie zu meiner mache. – Wie?

Du stutzest? wägst mich mit dem Auge? – Kann

Wohl sein, daß ich der erste Sultan bin,

Der eine solche Grille hat; die mich

Doch eines Sultans eben nicht so ganz

Unwürdig dünkt. – Nicht wahr? – So rede doch!

Sprich! – Oder willst du einen Augenblick,

Dich zu bedenken? Gut; ich geb' ihn dir. –

(Ob sie wohl horcht? Ich will sie doch belauschen;

Will hören, ob ichs recht gemacht. –) Denk nach!

Geschwind denk nach! Ich säume nicht, zurück

Zu kommen.


Er geht in das Nebenzimmer, nach welchem sich Sittah begeben.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 272-274.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nathan der Weise
Nathan der Weise
Nathan der Weise: Studienausgabe
Nathan der Weise: Handreichungen für den Unterricht. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen
Nathan der Weise: Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (Suhrkamp BasisBibliothek)
Nathan der Weise

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon