|
[106] (1315.)
Graf Alf hat deine Tochter verführt.
Das bringt dem Bruder Herr Caj.
Herrn Hartwich das die Kehle schnürt,
Bis ihn erlöst ein Schrei.
»Geh' hin, lieb Bruder, dem Grafen meld' an,
Und sag's in die Augen ihm frei:
Ich mord' ihn, wo ich ihn treffen kann,
Und wann auch immer es sei.«
Caj ritt den Burgberg schnell hinauf,
Und schlägt an's eiserne Thor:
He, Pförtner, schließ' die Riegel auf,
Und laß mich beim Grafen vor.
»Was schwatzt Herr Hartwich? So sag' ihm zurück:
Das nenn' ich Meuterei.«
Graf Alf hielt in den Fingern ein Stück,
Das Stück war der Kopf von Caj.
Auf güldener Schüssel, mit Blut benetzt,
So trug ihn ein Knecht hinaus.
Herr Hartwich taumelt und ruft entsetzt:
Verflucht sei Graf Alf und sein Haus.
Herr Hartwig ging im Sommerwald,
Frühmorgen war's, um drei.
Da traf er einen Jäger bald,
Der trug des Grafen Livrei.
[107]
»Die Kleider zieh' aus, und gieb sie mir her,
Sonst spann' ich dich in den Block.«
Der gab ihm zitternd Horn und Speer,
Und gab ihm seinen Rock.
Im Walde zog ein Hirsch vertraut,
Ein Hirsch mit starkem Geweih.
Vor des Grafen Kammer wird es laut,
Der hat in den Lidern noch Blei.
»Graf Alf, es zieht im Morgenrot
Ein Hirsch. Wach auf, wach auf.«
Herr Hartwich stieß den Grafen tot:
»Nimm du zur Hölle den Lauf«.
Der Page sah's, Herrn Hartwichs Sohn,
Er stund wohl nah dabei:
»Maria sah's vom Himmelsthron,
O Vater, daß Gott dir verzeih.«
Er küßt seinen Knaben mit wildem Schmerz,
Dann starb am Himmel ein Stern.
»Nun schilt dich nimmer ein Menschenherz
Verräther deines Herrn.«
Stolz schreitet der Ritter den Burgberg hinab,
Ein Schäfer blies auf der Schalmei.
Vier Mönche murmeln am Marmorgrab,
Und draußen lachte der Mai.
Buchempfehlung
Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.
114 Seiten, 4.30 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro