Die heilige Kümmernis

[113] An einem breiten Wege

Stand eine Statue;

Das Volk ging dran vorüber

Im Sommer und im Schnee.


Es hing ein schönes Mädchen

An steilem Kreuze da,

Sie ließ die Stirne sinken,

Misericordia.


Und blickt unendlich traurig;

Es lag der Erde Leid

Auf ihrem Antlitz nieder,

Da lag es ohne Neid.


Sie trägt die Fürstenkrone,

Ein prächtiges Gewand;

Mit Steinen und mit Ringen

Ist ihr geschmückt die Hand.


Zu ihren Füßen stellt sich

Ein junger Fant und kniet,

Und spielt auf seiner Geige

Ein letztes Abschiedslied.
[114]

Sie warf ihm hin zum Danke

Den einen goldnen Schuh;

Dann stockt ihr Leben wieder,

Sie schloß die Augen zu.


Das Volk geht dran vorüber,

Empfindet Ruck und Riß,

Und spricht halblaut und zitternd:

Die heilige Kümmernis.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Gute Nacht. Berlin 1909, S. 113-115.
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