Die Laterne

[62] Als ich heut' im Hufnershaus

Lebewohl genommen

Und ins Freie trat hinaus,

War die Nacht gekommen.


Sehen konnt' ich keinen Schritt,

Nirgends Mond und Sterne.

Spricht mein Gastfreund: Hans soll mit

Und die Stalllaterne.


Hans, der greise, taube Knecht,

Krippen, Spinneweben,

Tenne, Licht und Drahtgeflecht –

Könnt' ein Bildchen geben.


Trudchen steht dabei und lacht,

An der Mutter Seite.

Trudchen, bitt' ich, abgemacht,

Gieb mir das Geleite.


Und des Bauern frisches Kind

Ist zurückgesprungen,

Hat sich leicht ein Tuch geschwind

Um den Kopf geschlungen.
[63]

Reizend sah das Mädel aus

Im Geblink der Leuchte.

Kaum noch hellt das Elternhaus

Aus der Nebelfeuchte.


Trabt der Alte uns voran,

Treu, wie zwei Verirrten,

Folgen wir wie Lämmer dann,

Lämmer ihrem Hirten.


Wo sich durch den Buchenstand

Eng der Weg gewunden,

Hat sich schleunig Hand in Hand,

Mund zu Mund gefunden.


Finsternis und Waldesruh,

Himmel ohne Sterne.

Unverdrossen, immerzu

Wandert die Laterne.


Trifft ihr Schimmer Ast und Baum:

Blinzeln tausend Augen?

Wie sich, unerhört, ist's Traum,

Lipp' an Lippe saugen.


Zögern wir auf unserm Gang?

Laß den Alten eilen.

Ach, mein Herz im Überdrang

Möchte weilen, weilen.


Bis zuletzt erschrocken hält

Hans am Holzesrande.

Lichtscheu unter'm Laubgezelt

Schleicht die Kontrebande.
[64]

Doch nun endlich sind wir da,

Schrei'n ihm in die Ohren:

Alterchen, Hallelujah,

Hast uns nicht verloren.


Scheidegruß am Meilenstein,

Dichtverhüllte Ferne,

Letzter Blitz und letzter Schein,

Fort ist die Laterne.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Der Haidegänger und andere Gedichte, Leipzig 1890, S. 62-65.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon