Kolibri

[206] Alles wird dir gern verziehen,

Schöner Vogel, selbst dein Neid,

Weil dir Schönheit ward verliehen,

Flügel, funkelnd wie Geschmeid,

Gold, Rubin, Topas, Smaragd, Saphir

Halten sich versteckt aus Furcht vor dir.


Flatternd um die Blütenkronen

Und die Kelche, kleines Ding,

Kämpfst du wütend, ohne Schonen,

Mit dem Abendschmetterling,

Der allein an Glanz nicht deinem weicht,

Der allein an Schönheit dich erreicht!


Weil in deiner Brust es rascher

Als in der des Schwärmers pocht,

Hat darum der trunkne Nascher

Dich zu solchem Zorn vermocht?

Für den Tag zu spät, der Nacht zu früh,

Scheint er nur ein Bild der Phantasie?


Deinen heißen Mut zu zügeln,

Glimmt sein feurig Augenpaar,

Doch mit ausgespannten Flügeln

Stürzest du dich, wie der Aar,

Auf dein Opfer und beginnst den Streit

Mit dem trägen Sohn der Dunkelheit.
[206]

Welch ein wunderbares Streiten!

Schlachtfeld ist die blaue Luft,

Kampfpreis sind die Süßigkeiten,

Honigtropfen, Nelkenduft.

Kämpften Ritter je mit stolzrer Zier,

Strahlend in den Waffen beim Turnier?


Ward je größrer Mut entfaltet,

Größere Behendigkeit?

Ha! wie sich so bunt gestaltet

Jede Wendung in dem Streit!

Wie der goldne Schmuck der Federn blinkt

Und dann in den Staub zerknittert sinkt!


Mit dem Schnabel, deiner Lanze,

Wirfst du auf den Gegner dich,

Bringst dem zarten Schuppenglanze

Wunden bei mit jedem Stich.

Wohl ihm, wenn er in geschwinder Flucht

Vor dem Sieger sich zu retten sucht.


Doch es mahnt das nahe Dunkeln,

Kolibri, dich an dein Nest.

Käfer, mit dir fliegend, funkeln,

Führen dich zum Siegesfest.

Ja, dir ward das höchste Glück gewährt,

Fliegend Kleinod, das der Nektar nährt!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 206-207.
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