Brienzer See

[24] Schickt Italiens Sonne Küsse,

Schöner See, zu dir herein?

Trauben glühn, es reifen Nüsse

Auf dem schroffen Felsgestein.


Mildes Abendrot mit Rosen

Schmückt der Gletscher Todesruh',

Haupt und Schoß der Lebenlosen

Decket goldne Dämmerung zu.


Wenn die Burgen noch beständen,

Deren Schutt dort niederschaut,

An den hohen Felsenwänden

Hallte dann des Jagdhorns Laut.


Fackelglanz durchschien' die Wogen,

Aus dem Turm am Seegebraus

Zögen durch der Brücke Bogen

Rotbeflaggte Gondeln aus.
[24]

Trotz'ge Hellebardenträger,

Schöne Frauen sind am Bord,

Ross' und Rüden, und der Jäger

Horcht des Lautenspiels Akkord.


Aber Keul' und Kolbe pochen

Donnernd an des Schlosses Tor,

Und der Burgherr liegt erstochen,

Feuer schlägt vom Turm empor! –


Redet, o verklungne Zeiten!

Längst in Trümmern Schloß und Turm!

Sieh dahin das Dampfboot gleiten,

Wo das Segel rang im Sturm.


Wie der Stern in seinem Kreise,

Wie der Wolke frohes Ziehn,

Wie des Menschen Pilgerreise

Flog das Boot mit Segeln hin.


Wie der Pfeil vom Armbrustbogen,

Wie der Blitz in seiner Glut

Braust das Dampfroß durch die Wogen

Stolz auf dich, bewegte Flut!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 24-25.
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