Unter einer Eiche

[23] In Hergensweiler


Eiche, deine dunkeln Zweige ragen

Stolz empor aus längst vergangnen Tagen,

Geister wandeln durch dein ästig Haus;

Sieben Menschenalter sahst du schreiten,

Und wie Harfen aus den alten Zeiten

Rauscht es durch dein Laub im Sturmgebraus.


O wie oft in deiner Schattenkühle

Haben Mähder bei des Sommers Schwüle

Ausgerastet von des Tages Mühn;

Deine friedlichen Gezweige kränzten

Keine Siegeshelme, hier erglänzten

Hirtenfeuer nur und Alpenglühn.


Hirsche nur und junge Rehe sprangen

Aus dem Wald herauf, und Lerchen sangen

Unter deinen Blumen auf der Flur.

Während ringsum Kriegsgeschütze dröhnten,

Feindesbanner flatterten, ertönten

Hier des Sonntags fromme Glocken nur.
[23]

Aus der Wunde deiner harten Adern

Quillt ein Honig, summenden Geschwadern

Wilder Bienen dient dein Holz zum Bau:

So quillt Sanftmut aus der tiefen Wunde,

Die vernarbt in unsres Herzens Grunde,

Aus dem Schmerz des Liedes milder Tau.


Sturm und Blitz verschonten dich, o Eiche,

Vor des Beils verhängnisvollem Streiche,

Schirmend soll mein Segen dich umwehn.

Lebe wohl, und seh' ich einst dich wieder,

Laß aufs neue dann durch meine Lieder

Deiner Wipfel dunkles Rauschen gehn!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 23-24.
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