Frühlingssegen

[88] Mein Herz, aus goldnen Jugendtagen,

Aus glücklicher Vergangenheit

In grünes Laub ist's ausgeschlagen,

Da lebt's und atmet und gedeiht.


Die Sehnsucht aber, die ich hatte,

Und mancher wundersüße Traum,

Sie säuseln jetzt im Lindenblatte

Und flüstern in dem Tannenbaum.
[88]

Ich lebe, wo die Finken schlagen,

Man kann mich in der Blütezeit

Nach Haus in einem Zweige tragen,

Gefangen bin ich und befreit.


Es bringt mir in der Morgenkühle

Des Sonntags reine Himmelslust

Die längst entschlummerten Gefühle

Erinnernd wieder in die Brust.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 88-89.
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