Alte Briefe

[88] Eine Schrift gibt's, deren Züge

Ohne Tränen ich nicht sehen kann,

Denn sie redet keine schöne Lüge,

Die ein leeres Herz ersann.

Alle Worte sind nur Zeugen

Einer Liebe, tief, unwandelbar,

Einer Liebe, die durch nichts zu beugen,

Die die Liebe meiner Mutter war.


Ob ich dich auch nicht mehr habe,

Deine stille, treue Liebe blieb,

Modert auch die Hand im Grabe,

Die mir diese Tränen schrieb.

Wie vor Jahren noch bewegen

Deine Sorgen heut' mein Herz,

Lindernd fließt um mich dein Segen,

Ach, zu hart wär' sonst um dich der Schmerz!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 88.
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