Stiller Schmerz

[87] Wem nach langer Kerkernacht,

Wem nach heißen Fieberwochen

Wieder neu das Leben lacht,

Frühlingsfrisch die Pulse pochen,

Selig wie das Sonnenlicht

Ist sein Herz und weiß es nicht.


Aber dich, o dich zernagt

Eine Wunde, die nicht blutet,

Dich ein Schmerz unausgeklagt,

Dessen Quell wie Lethe flutet,

Dessen Heilung nie gelingt,

Den kein Lied in Schlummer singt.


Eines Grams nur leiser Duft,

Nur der Schatten eines Kummers

Stockt in deiner Lebensluft,

Stört den Frieden deines Schlummers;

Namenlos und schattenhaft

Saugt er deine beste Kraft.


Nie zu rasten, nie zu ruhn,

Und doch nie ins volle Leben

Einen festen Schritt zu tun,[87]

Zu erglühen im Bestreben,

Zu erliegen im Versuch,

Weh dir, Herz, das ist dein Fluch!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 87-88.
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