Die Priesterin der Isis in Rom

[152] Heucheln soll ich Zauberkünste,

In den Flammen trüber Dünste

Spähen nach verborgnem Sinn;

Aus der Vögel hohen Flügen

Soll ich Prophezeiung lügen

Um verhaßten Goldgewinn.

Ob nicht bald ein Freier werbe,

Ob ein grauer Schurke sterbe,

Welch ein Frevler ihn beerbe,

Frägt man die Ägypterin.


Völkern hier ein Licht zu schenken

Und zur Wahrheit sie zu lenken,

Wähnte die Prophetenbraut;

Weh, nun muß ich hier bei Kesseln

Schauen, wie mit Lolch und Nesseln

Schlangenhaut und Kröte braut,

Muß mein edles Wissen schänden,

Hohes sehn aus Sklavenhänden[152]

Und am Dreiweg Feuerbränden

Niederstreu'n das Lorbeerkraut.


Ich, des großen Landes Tochter,

Wo zuerst auf unterjochter

Erdkraft sich der Geist vernahm,

Jenes Landes, dessen Lehre

Leuchtend über Land und Meere

Einst an alle Völker kam.

Ja, wir waren's, die am frühsten

Halt geboten Meer und Wüsten,

Mit Gesang die Sterne grüßten,

Tiere zogen fromm und zahm!


Jene Weisheit ist verloren,

Unter Gaukler, unter Toren

Stößt ein fremder Pöbel mich;

Weh, was ließ ich den geliebten

Strand des Nils, o dich, Ägypten,

Grab der Könige und dich!

Wo beim Staub der Pharaonen

Teure Seelenwandrer wohnen,

Könnt' auch ich im Schatten thronen

Hochgeehrt und priesterlich.


Hier ist alles wie zerrissen;

Nirgends knüpft ein Allmachtwissen

Erdennacht und Himmelspol.

Durch bedeutungslose Ferne

Irren tonlos hier die Sterne,

Alles tönt mir leer und hohl.

Ihr zerreißt den Isisschleier,

Aber saget nun, Entweiher:

Sehet die Natur ihr freier,

Seit zertreten ihr Symbol?
[153]

Fromme Vögel seh' ich schweben

Nach dem tempelreichen Theben,

Bald fliegt meine Seele mit;

Wenn der Sternenkreis vollendet,

Wenn zum Tal der Nil sich wendet,

Siegeshoch im Segensschritt,

Nimmer weil' ich dann hienieden;

Hohe Nacht der Pyramiden,

Nimm mich auf, wenn ich um Frieden

Deine goldnen Tore bitt'!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 152-154.
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