Vierzehntes Kapitel.

Die Entdeckungen.

[779] Die Gipfel der Berge erglänzten bereits im Gold der aufgehenden Sonne, während der Boden der Schlucht, durch welche mein Weg führte, noch im tiefen Schatten lag, als ich die Geröllanhäufung erreichte, die mir die Lage von Anton's Schloß bezeichnete.

Eh ich mich nach dem Versteck hinaufbegab, durchspähte ich die Schlucht nach beiden Richtungen hin. Alles war still; eine dicke Schicht dürrer Blätter bedeckte den Boden; ein Nachspüren wäre also selbst für den gediegensten und erfahrensten Waidmann unmöglich gewesen, also auch für den wilden Andres, den ich zur Zeit für meinen erbittertsten Feind und Verfolger hielt.

Auch die nächste Umgebung war so beschaffen, daß man nicht erwarten durfte, daselbst mit Erfolg nach einem Flüchtling zu forschen; denn wo nicht massives Gestein die Aussicht begrenzte, da vermochte man weit zwischen dem entlaubten Unterholz hindurchzublicken, und die wenigen, pyramidenartig gewachsenen Tannen standen zu zerstreut, um unter ihren bis auf die Erde niederhangenden, grünen Zweigen einem Menschen ein sicheres Versteck zu gewahren.

Kahl und wenig anmuthig reckten die meisten Bäume ihre Zweige empor, als ob sie, ihres schönen Sommerkleides beraubt, fröstelnd den warmen Sonnenschein zu sich hätten niederziehen wollen, und während einzelne Sträuche und die über das Gestein hinkletternden Brombeerranken, die dem Winde weniger ausgesetzt gewesen, nur noch mit Mühe ihre hochroth und braun gefärbten, aber durch den Thau erschlafften Blätter an sich hielten, brüsteten die Eichen, Alt und Jung, sich noch immer mit ihrem vollen Schmuck. Ihr Laub war freilich herbstlich braun und abgestorben, um so mehr aber verlieh es ihnen dafür das Aussehen von überlegenden Wesen, welche sich, zum Schutz gegen Schnee und winterliche Kälte, so recht behaglich in einen warmen, von zusammengeschrumpften Blättern künstlich hergestellten Mantel eingehüllt hatten.[779]

Und zwischen diesen Blättern lispelte und rauschte es leise, wenn ein Lufthauch auf sie niederfuhr, daß es sich anhörte, wie verstohlenes Hohnlachen und wunderbare Geschichten, die von den bereits in Halbschlummer versenkten Bäumen in abgebrochenen Pausen flüsternd erzählt wurden. Dann sielen auch wohl Eicheln zur Erde und Buchnüsse, hier überreif von den zierlichen Näpfchen abgestoßen, um unten im feuchten Moos Keime zu treiben, dort den kralligen Pfötchen munterer Eichhörnchen entgleitend. Indem sie aber auf die Blätterlage niedersanken, klang es wie der Schall von leichten, unregelmäßigen Schritten, wie wenn ein lustiges, unsichtbares Völkchen zwischen dem raschelnden Laub getanzt und eine ebenfalls mit lautem Schall einherhüpfende Drossel, oder ein in weiten Sprüngen sich tummelndes Eichhorn den Reigen geführt hatten. Und die Tannen mit ihrem dunkelgrünen Nadelschmuck, und das ebenso grüne Moos an den knorrigen Stammen und auf dem verwitternden Gestein bildeten die ernsten bewegungslosen Zuschauer; denn die fleißigen Spechte, die an der morschen Rinde umherhämmerten, die stinken Baumläufer, die bald um die eine, bald um die andere Seite der Stämme neugierig herumlugten und den langen gebogenen Schnabel prüfend in jede von Würmern gefressene Röhre steckten, die Häher, die sich gegenseitig schmähten und ausschalten, und die Zaunschlüpfer, die zwischen Ranken und Gestein Verstecken und Suchen spielten, die hatten Alle keine Muße, sich um das Rascheln im Laub zu kümmern, so lange es noch harmlos klang. Sie hatten Wichtigeres zu thun und zu bedenken; die Einen mußten für ihr tägliches Brod arbeiten, die Andern die Zeit vertändeln, denn wer konnte wissen, wie lange das gute, so recht zum Spielen geschaffene Wetter noch anhalten würde, und gar zu oft schon wurde der liebliche Sonnen schein der Frühstunden vor Einbruch der Nacht von neidischen Wollenmassen verdrängt.

Wehmüthig blickte ich noch einmal um mich. Alles schien mir entgegenzulächeln, aber es war ein Lächeln, wie es oft das Antlitz eines Sterbenden schmückt, ein Lächeln, zu heilig, als daß der erstarrende Tod es zu verdrängen wagte. Auch ich versuchte zu lächeln, allein es gelang mir nicht – kaum zweitausend Schritte weit von mir entfernt lag die Oberförsterei, und hart neben mir Anton's Schloß – o, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, zwischen diesen beiden Punkten zu wählen! – »Aber ich darf ja nicht,« seufzte ich vor mich hin, und langsam kletterte ich die Geröllanhäufung hinauf.

Mittelst der Kleidungsstücke und namentlich einer wollenen Decke, welche mein Ränzel enthielt, gelang es mir leicht, auf dem duftigen Heidekraut ein erträgliches Lager herzustellen. Etwas Speisen führte ich noch bei mir, einen Trunk bot mir Anton's alter Wasserkrug, und nachdem ich mich auf diese Weise gestärkt, warf ich mich auf das Lager hin.

Ich versuchte über meine Lage, über den Wechsel des Schicksals nachzudenken, ich versuchte mir tröstliche Bilder von Johanna zu entwerfen, diese geistige Beschäftigung dauerte indessen nicht lange. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich mich zu übermäßig angestrengt; die Erschöpfung schloß mir bald die Augen und ich schlief so fest, als wenn ich[780] von einer schweren Betäubung heimgesucht gewesen wäre.

Fünf oder sechs Stunden hatte ich Wohl in diesem für mich so glücklichen Zustande der Bewußtlosigkeit zugebracht, als eine warme Hand sich mit leichtem Druck auf meine Stirn legte.

Erschreckt fuhr ich empor; das mich umgebende Halbdunkel befremdete mich, und längere Zeit dauerte es, bis ich mich erinnerte, wo ich mich befand.

Anton saß neben meinem Lager auf einem Bündel Heidekraut, und vor ihm im Halbkreise standen und lagen auf der Erde die Lebensmittel, welche der brave Mensch aus allen Richtungen für mich zusammengeschleppt hatte.

»Schon da, alter Freund?« fragte ich, mich aufrichtend und ihm zum Gruß die Hand reichend.

»Der junge Herr nennt mich seinen Freund,« erwiderte Anton herzlich lachend, »bis jetzt hatte ich außer Jakob keinen Freund; ja, ich bin schon lange hier, länger als eine Stunde.«

»So lange schon, und Du hast mich nicht geweckt?«

»Der junge Herr schlief so schön; es geht nichts über den Schlaf; wenn ich schlafe, weiß ich nicht, daß ich ein armer, verachteter Krüppel bin.«

»Du hast Recht, Anton, im Schlaf vergißt man Kummer und Trauer. Aber dennoch hättest Du mich wecken sollen, indem Du weißt, wie ungeduldig ich auf Nachricht von der Oberförsterei harre.«

»Mein Bruder ist heimgekommen und hat mich geschlagen.«

»Heimgekommen?« fragte ich überrascht. »Ja, er war zornig, es hat aber nicht wehe gethan; es war gut, denn ich bin fortgelaufen und brauche in den nächsten Tagen nicht zurückzukehren. Dem Jakob thun sie nichts zu Leide, er muß das Haus bewachen. Ich bleibe bei dem jungen Herrn und kann ihm erzählen Tag und Nacht, Alles, was ich weiß.«

»Johanna, Anton, sage mir vor allen Dingen, wie geht es Fräulein Johanna, Du weißt, die junge Dame auf der Oberförsterei?«

»Ich weiß, junger Herr, das arme, arme Fräulein ist krank, sehr trank, und die Leute sagen –«

»Was sagen die Leute?« rief ich aus, indem ich, erfüllt von namenlosem Entsetzen, Anton heftig am Arm ergriff.

»Lieber junger Herr,« antwortete der Krüppel, mit dem Aermel seiner Jacke über seine Augen hinfahrend, »die Leute sagen, das arme liebe Fräulein muß sterben, und es ist wahr, ich sehe das arme Fräulein oft und dann betet es immer.«

»Sterben?« fragte ich wieder, denn in meiner Todesangst klammerte ich mich verzweiflungsvoll an die Hoffnung an, falsch gehört zu haben oder daß Anton nicht genau zu unterscheiden verstanden habe; »und Du sagst, Du hast sie gesehen? Wie ist es möglich, daß Du zu Johanna gelangst, wenn sie auf dem Sterbebett liegt!?«

»Das Fräulein liegt nicht, es sitzt, und zu ihm gelange ich auch nicht; aber ich liebe das Fräulein, weil es stets gut gegen den armen Anton gewesen ist, und des Abends gehe ich häufig hinüber, um es zu betrachten. Die Hunde kennen den armen Anton, sie[781] thun ihm nichts, wenn er durch den Garten an des Fräuleins Fenster schleicht und in das Gemach hineinschaut. Ich sehe dann, wie sie auf einem großen Stuhl dasitzt und betet, ich sehe, wie ein schwarzgekleideter Mann, ein Kaplan, mit ihr betet und so fromme Worte zu ihr spricht, daß ich darüber weinen muß. Der Kaplan ist ein frommer Mann, er will auch meinen Bruder bekehren, denn ich habe Beide mehrfach gesehen, wenn sie im Walde spazieren gingen und viel mit einander sprachen. Aber es wird ihm nicht helfen, der Andres ist noch nicht besser geworden, er flucht und schlägt mich jetzt noch mehr, als er früher gethan hat.«

»Ein Kaplan bei Johanna?« stieß ich, von den schwärzesten Befürchtungen ergriffen, mit schmerzlichem Erstaunen aus, denn ich wußte ja, daß Johanna Protestantin war.

»Ein Kaplan mit langen Strümpfen und schwarzem Rock,« bekräftigte Anton, »auch sah ich, daß er mitten auf dem Kopf seine Haare abgeschnitten hat.«

»Aber um Gotteswillen, Anton, was sagt denn der Oberstlieutenant dazu.«

»Der Herr Oberstlieutenant sagt nichts, denn er kommt so spät nicht oft zu dem Fräulein, und wenn er kommt, ist der Kaplan nicht da. Dann küßt er das Fräulein, und das Fräulein sagt, er solle auf dem Wege der Sünde umkehren, und er wendet sich ab und geht wieder hinaus.«

»Und was sagt die Frau Oberstlieutenant!?«

»Ach, die alte, freundliche Frau betet immer mit und liest dem armen Fräulein schöne Litaneien vor, und das Fräulein spricht dieselben nach.«

Ich hatte jetzt genug gehört. Entsetzt legte ich die Hände an meine Stirne, um mich zu überzeugen, daß ich noch unter den Lebenden weile, noch meinen ungeschwächten Verstand besitze. Ein furchtbares Geheimniß schien in Anton's Berichten verborgen zu sein. Seine Worte, obwohl ich sie ihm einzeln entlocken mußte, ließen eine Täuschung nicht zu; der arme Mensch war zu einfältig, zu wenig begabt, um dergleichen zu ersinnen und, bei seiner Freundschaft für mich, zu krassen Unwahrheiten seine Zuflucht zu nehmen. Verzweiflungsvoll warf ich mich auf mein Lager zurück, in meinem Kopfe wirbelte Alles wild durch einander, wie damals im Gefängniß, als ich von der schrecklichen Krankheit heimgesucht wurde. Und dennoch, was war jene Krankheit im Vergleich mit meinem jetzigen Zustande? Gefoltert von namenloser Seelenqual wand ich mich stöhnend auf meinem Lager, daß selbst Anton dadurch von Angst und Schrecken ergriffen wurde.

»Mein lieber, junger Herr Student!« rief er ächzend vor innerer Bewegung aus, indem er meine Hand küßte und mit Thränen benetzte, »seien Sie doch gut mit dem armen Anton; ich habe Sie ja nicht kränken wollen! Nur die Wahrheit habe ich gesprochen; hören Sie auf mich, schlagen Sie mich, aber sterben Sie nicht. O heilige Muttergottes, was soll ich anfangen, wenn mein einziger Wohlthäter stirbt!« und dann seine verstümmelte Hand auf meine Brust legend, strich er mit der gesunden schmeichelnd meine Wangen.

Armer, ehrlicher Anton, wie schön erschienst Du mir damals, trotz Deiner Verunstaltung, und wie redlich[782] und treu blickten Deine trüben, in Thränen schwimmenden Augen auf mich nieder! Du dachtest vielleicht in Deiner Einfalt, ich würdige Dich keiner Antwort, weil Du häßlich und verkrüppelt seist. Das war der Grund aber nicht, ehrlicher Anton, weßhalb ich zuletzt ruhig dalag, mit stieren Blicken zu der massiven Bedachung Deines Schlosses emporschaute und, scheinbar ohne darauf zu achten, Dich weiter reden, klagen und stehen ließ. Nein, ehrlicher Anton, gewiß nicht, aber Deine aufrichtige Freundschaft, Deine Opferwilligkeit, Dein ungeheuchelter Kummer und die lauten Aeußerungen desselben thaten meinem Herzen wohl, so unendlich wohl, daß ich Dir, meinem einzigen Freund, noch lange hätte zuhören können, ohne Dich zu unterbrechen. Du wußtest das freilich nicht und ahntest es nicht; wäre es Dir aber gesagt worden, so hättest Du es nicht für möglich gehalten, und je länger ich schwieg, um so trauriger wurdest Du, und um so bitterer waren die Vorwürfe, welche Du gegen Dich selbst, als die mittelbare Ursache meines Schmerzes erhobst. Wie klang es so rührend, als Du mich auffordertest, Dich für die traurigen Mittheilungen zu strafen und zu schlagen, und wie löste sich die starre Rinde, welche sich um meine Brust gelegt hatte, als Du Dich auf die Erde warfst, mit Deiner lahmen Hand zwischen dem Heidekraut wühltest und schluchzend die heilige Muttergottes batest, Dich, den nichtsnutzigen, verachteten Wechselbalg, an meiner Statt von der Erde zu nehmen und den vereinsamten Jakob einen guten Herrn in mir finden zu lassen.

»Armer, lieber Anton,« sagte ich endlich, nachdem ich mich einigermaßen gefaßt hatte, »ich muß Johanna sehen, und sollte es mich das Leben kosten; ich muß einen klaren Blick in das verderbliche Gewebe gewinnen, mit welchem man sie umstrickt hat, und an Dir ist es, mir beizustehen. Antworte mir, Anton, glaubst Du wohl, daß es Dir möglich sein wird, mich unbemerkt an das Fenster zu führen, durch welches Du Alles, was Du mir geschildert, beobachtet hast?«

»Gewiß, lieber junger Herr, aber nicht bei Tage,« Antwortete Anton, sich blitzschnell emporrichtend und mir gespannt in die Augen schauend.

»Das versteht sich von selbst, Anton; würden wir aber schon heute Abend hingehen können?«

»Ja, lieber Herr Student, verlassen Sie sich auf den Anton; ich gehe im Dunkeln so sicher, als am Tage, und kann ich auch nicht weit um mich sehen, so höre ich dafür desto schärfer. Ich werde den jungen Herrn an das Fenster führen, daß er das liebe Fräulein sieht und vielleicht auch den Herrn Kaplan und den Herrn Oberstlieutenant.«

Ich erklärte mich mit Anton's Plan einverstanden; prägte ihm nochmals ein, daß ich in nächster Zeit die Gegend verlassen würde, um vielleicht erst nach vielen Jahren wieder zurückzukehren, daß ich aber, um überhaupt zu entkommen, unentdeckt bleiben müsse. Dann versuchte ich durch geschickt gestellte Fragen, ihm Alles zu entlocken, was er auf der Oberforsterei beobachtet und seitdem noch nicht wieder vergessen hatte.

Viel mehr, als er mir bereits mitgetheilt, erfuhr ich nicht; er wiederholte in seiner kindischen, aufrichtigen Weise mehrfach, was er schon erzählt hatte, doch genügte dies für mich, zu errathen, daß es sich[783] hier um einen tief angelegten Plan zur Erreichung eines schändlichen Zweckes handle. –

Der Abend rückte heran; ich unterhielt mich zeitweise mit Anton, zeitweise versank ich in trauriges Brüten, und mehr um den armen Schelm zufrieden zu stellen, als daß ich das Bedürfniß gefühlt hätte, ließ ich mich willig finden, einige Speisen zu mir zu nehmen. Als es dann endlich vollständig Nacht geworden war, brachen mir auf.

Wir folgten demselben Pfade, auf welchem Anton mich zum ersten Male, unmittelbar nachdem ich nähere Bekanntschaft mit ihm geschlossen, geführt hatte, doch gebrauchten wir die Vorsicht, daß nur Anton in dem Pfade selbst blieb, während ich etwas seitwärts in der lichten Waldung gleichen Schritt mit ihm hielt.

Die Besorgniß, dem wilden Andres, der sich häufig wilddiebend zur nächtlichen Stunde in dem Forst umhertrieb, zu begegnen, ließ diese Vorsichtsmaßregel für gerathen erscheinen, und daß er in der Nähe weilte und den Tag über schlafend in der heimathlichen Hütte zugebracht hatte, stellte Anton ja außer Frage. –

Wir waren in geringer Entfernung an der bezeichneten Hütte vorbeigekommen und schnell, wenn auch mit behutsamen Bewegungen, näherten wir uns der Landstraße, als Anton plötzlich stehen blieb und mich durch ein verabredetes Zeichen zu sich heranrief. »Jemand geht vor uns,« sagte er ängstlich flüsternd, »ich höre langsame Schritte.«

Ich strengte mich auf's Aeußerste an, irgend etwas zu unterscheiden, aber vergeblich. Nur das Geräusch vernahm ich, mit welchem die Waldmäuse in dem dürren Laub umhersprangen.

»Anton, Du hast Dich wohl getäuscht,« unterbrach ich endlich wieder die Stille.

»Nein, nein, lieber Herr Student, Anton hört noch schärfer, als Jacob; es geht Jemand vor uns, er ist gleich an der Landstraße, ich höre es, ja ich höre es ganz gewiß.«

Wiederum lauschten wir, ohne daß ich etwas Auffälliges vernommen hätte, doch setzte ich keinen Zweifel in Anton's Ausspruch, indem ich mir erklärte, daß die Natur ihn, für die vielen Mängel und Vernachlässigungen in seinem Aeußeren, wahrscheinlich durch ganz ungewöhnlich scharf ausgebildete Hörorgane entschädigt habe.

Plötzlich unterschied ich einen fernen dumpfen Fall, und dann war Alles wieder still.

»Er ist über den Graben in die Straße gesprungen,« sagte Anton mit überzeugender Entschiedenheit. »Wir können ohne Gefahr weitergehen, aber ganz leise, lieber junger Herr, denn ist es mein Bruder, der dort geht, so ist es schlimm. Er hört ebenfalls sehr gut und hat scharfe Augen. Er steht in der Nacht Schlingen, um Hafen und Kaninchen zu fangen.«

Lautlos, jetzt aber nicht mehr von einander getrennt, setzten wir darauf unfern Weg fort, und Schritt für Schritt und auf's Sorgfältigste in die Ferne horchend, näherten wir uns der Landstraße. Als wir dieselbe erreichten, sprangen wir indessen nicht, wie der späte Wanderer vor uns gethan hatte, in den Weg hinein, sondern uns beständig auf[784] dem Ufer des Grabens haltend, schlichen wir im Waldessaum selbst langsam auf die Oberförstern zu.

Etwa hundert Schritte mochten wir in dieser Weise zurückgelegt haben, als Anton mich wiederum durch seine vorgehaltene Hand zum Stillstehen veranlaßte und, seinen Mund meinem Ohr nähernd, mit vor Angst bebender Stimme flüsterte: »Wir sind verloren, er kommt zurück, der wilde Andres, ich hörte ihn husten.«

»Verbergen wir uns Anton, und lassen wir ihn vorbeigehen,« sagte ich beruhigend zu dem armen Menschen, der über die Entdeckung, daß es sein Bruder war, den Kopf vollständig verloren hatte.

Indem ich noch sprach, glitt ich behutsam in den Graben hinein, den fast willenlos geworbenen Gefährten mir nachziehend. Erst als Anton errieth, was ich bezweckte, fand er seine Fassung wieder, und es bedurfte keines weiteren Zuredens mehr, sich, gleich mir, auf dem Boden des Grabens lang auszustrecken. Der Graben war ungefähr drei Fuß tief, wohl ebenso breit und weniger abzuleitender Feuchtigkeit wegen angelegt worden, als um ein Grenze zwischen Straße und Forst, zum Schuh des letzteren gegen den Andrang vorbeigetriebener Viehheerden zu ziehen. Wir lagen daher nicht nur trocken, sondern die auf den Ufern üppig wuchernden harten Gräser verbargen uns auch dergestalt, daß am hellen Mittage wer weiß, wie viel Leute hätten vorübergehen können, ohne uns zu entdecken oder auch nur eine Ahnung von der Nähe von Menschen zu erhalten. Bei der tiefen Dunkelheit, welche durch die überhängenden Bäume noch verdichtet wurde, durfte ich mich als doppelt gesichert betrachten, und obschon Anton, der für seine Person im Grunde gar nichts zu fürchten hatte, mich heftig am Rock zupfte, nahm ich doch keinen Anstand, meinen Kopf bis zum Rande des Grabens zu erheben, um zwischen den Halmen hindurch einen freien Ueberblick über die Straße zu gewinnen.

Es befremdete mich nämlich im höchsten Grade, daß Anton's Bruder, anscheinend nur, um auf- und abzuwandeln, sich hierher begeben haben sollte, und erwachte in Folge dessen in mir die unwiderstehliche Neigung, Näheres über seine, ohne Zweifel mich betreffenden Absichten auszuforschen.

Nicht lange hatten wir uns in dem Graben befunden, als ich den Beweis erhielt, daß Anton's Gehör ihn nicht getäuscht hatte, denn ich vernahm das Geräusch von Schritten eines sich langsam nähernden Mannes, und bald darauf traten auch die äußeren Formen seiner Gestalt vor meinen ängstlich spähenden Blicken deutlicher hervor.

Er ging in der Mitte des Weges, blieb mehrfach stehen, offenbar um zu lauschen, und als er uns gegenüber angekommen war, hörte ich sogar, daß er murmelnd einen bösen Fluch ausstieß und alle Pfaffen zum Teufel wünschte.

Anton, der mich noch immer festhielt, zitterte so sehr, daß ich das Schlimmste befürchtete, doch beruhigte er sich wieder, sobald Andres vorbei war und seine Schritte allmälig gedämpfter zu uns herüber schallten.

»Er kommt zurück,« flüsterte Anton nach einer Weile wieder angstvoll.

Ich legte, um ihn zu ermuthigen und zur Vorsicht[785] zu mahnen, meine Hand auf sein Haupt, er drückte sich in Folge dessen fester auf den Boden, und bald darauf sah ich Andres' schwarze, schattenähnliche Gestalt abermals vor mir vorüberschreiten. Er schien noch ungeduldiger geworden zu sein, denn länger wurden die Flüche, die er vor sich hinmurmelte, und grimmiger der Ausdruck, mit welchem er auf die Pfaffen schmähte.

Ging er nun dieses Mal nicht so weit, oder waren meine Ohren geübter geworden, genug, ohne daß Anton mich darauf aufmerksam zu machen brauchte, entdeckte ich, daß er umkehrte und abermals auf demselben Wege zurückkam. Fast gleichzeitig vernahm ich aber auch den Schall von Schritten, die sich aus der entgegengesetzten Richtung schnell näherten.

Als Andres wohl noch dreißig Schritte weit entfernt war, hustete er leise; der Wanderer, der auf der andern Seite von uns bis auf fast ebenso weit herangekommen war, antwortete in ähnlicher Weise und in der nächsten Minute bot Andres ihm gerade vor uns einen höflichen »Guten Abend.«

»Der Segen der heiligen Jungfrau sei mit Euch, mein Freund,« antwortete eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gleichsam zu Eis erstarrte, denn an seiner Redeweise und seinem Organ hätte ich Bernhard unter Tausenden herauserkannt.

»Ich glaubte schon, der Herr Kaplan hätten mein Zeichen nicht bemerkt, und in's Haus hineinzugehen, haben der Herr Kaplan mir untersagt,« versetzte Andres in vertraulichem Tone.

»Etwas Wichtiges muß es jedenfalls sein, guter Freund,« bemerkte Bernhard, den in Andres' Worten enthaltenen Vorwurf nicht beachtend, »oder Ihr würdet Euch und mir die späte Störung erspart haben. Aber es schadet nicht; es war ohnehin meine Absicht, heute Abend noch in Eurer Hütte vorzusprechen.«

»Wichtig genug, Herr Kaplan, um den Lohn für meine Dienste noch um ein gutes Stückchen zu erhöhen,« erwiderte Anders zuversichtlich.

»Und wollt Ihr, ein so guter Katholik, jeden der Kirche geleisteten Dienst noch besonders bezahlt haben?« fragte Bernhard vorwurfsvoll, »denkt Ihr nicht daran, daß Ihr durch dergleichen gute Handlungen Euren Schutzpatron dazu bewegt, Fürbitte für Euch einzulegen und dadurch der Euch zuerkannte Aufenthalt im Fegefeuer beträchtlich ermäßigt wird?«

»Das ist Alles recht gut, Herr Kaplan, was helfen mir aber Fürbitten, wenn ich auf Erden wie ein Hund leben muß? Die Zeiten sind schlecht, die Lebensmittel theuer, und ich habe eine alte Mutter und einen armen unglücklichen Bruder zu ernähren.«

»Beruhigt Euch, mein Freund,« lenkte Bernhard ein, »jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth, und Ihr sollt keinen Grund haben, Euch über die Undankbarkeit der Kirche zu beklagen; aber sagt jetzt, was ist es, das Ihr mir mitzutheilen habt?«

»Was sollte es sein, Herr Kaplan? Er ist wieder los.«

»Wer ist los, mein guter Freund?«

»Nun, wer anders, als der Student Wandel, der abgesetzte Bräutigam vom Fräulein auf der Oberförster.«

»O, darum hättet Ihr Euch nicht hierher zu[786] bemühen brauchen, mein lieber Freund, ich wußte es bereits vor vierzehn Tagen aus den Zeitungen. Er wird steckbrieflich verfolgt, und hoffentlich gelingt es den Behörden, den gefährlichen Menschen wieder einzusaugen, oder es gelingt ihm, die Grenze zu erreichen und das Vaterland von seiner gefährlichen Person zu befreien.«

»Das mögen der Herr Kaplan freilich gewußt haben,« entgegnete Andres höhnisch, »aber daß er hier ist, haben Sie ganz gewiß noch nicht erfahren.«

»Er ist hier?« fragte Bernhard verwundert, obgleich er diese Nachricht schon längst errathen haben mußte.

»Ja er ist hier und ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen –«

Was die Beiden weiter sprachen, ging mir verloren, denn bei dem letzten Theil ihrer Unterhaltung hatten sie sich, um sich der Kälte zu erwehren, bereits wieder auf die Oberförstern zu in Bewegung gesetzt, und nur noch, als undeutliches Murmeln drangen ihre Stimmen zu mir herüber.

Ich hatte indessen genug gehört; meine Sinne schienen mich verlassen zu wollen, und erfüllt von grenzenloser Wuth und Verachtung und von Furcht für Johanna preßte ich mein Antlitz in den Rasen.

»Mein Gott, mein Gott, ist es denn möglich, kannst Du es zugeben, daß unter dem Mantel des Allerheiligsten die gräßlichsten Schandthaten ausgeübt weiden?« stöhnte ich verzweiflungsvoll. Da brachte Anton mich wieder zur Besinnung, indem er mir zuraunte, daß sie umgekehrt seien und zurück kämen.

Mein Schmerz verstummte bei dieser Kunde fast augenblicklich, und mit den Gefühlen eines Tigers, wenn er auf seine Beute lauert, lehnte ich mich noch weiter über den Rand des Grabens, um so viel, wie nur irgend möglich, von der Unterhaltung der beiden schurkischen Genossen zu erfahren.

Längere Zeit dauerte es, bis mir ihre Worte verständlich wurden, denn sie gingen nicht nur langsam, sondern im Eifer des Gesprächs blieben sie zuweilen auch ganz stehen.

»Ein schönerer Lohn, als das Geld, ist das Bewußtsein, eine der ewigen Verdammniß anheimgefallene Seele gerettet zu haben,« unterschied ich endlich wieder, »und Ihr, mein Freund, dürft Euch rühmen, daß Ihr das Eurige redlich mit zu dem Gott gefälligen Werke beitrugt; glaubt mir, manche andere Sünde wird Euch deshalb nicht angerechnet werden.«

»Und wäre der Lohn noch zehnmal schöner, Herr Kaplan, es ist gegen meine Natur, mich zu einer Arbeit herzugeben, ohne dafür in klingender Münze bezahlt zu weiden. Gebt mir Etwas auf Abschlag, und ich verspreche Euch, der Student soll sich nicht auf eine halbe Meile im Umkreis blicken lassen, ohne von mir gefaßt und nach dem nächsten Gericht transportirt zu werden.«

»Die Nachbarschaft der Oberförsterei muß am schärfsten bewacht weiden,« mein guter Freund, »denn es steht zu erwarten, daß er Alles aufbieten wird, eine Zusammenkunft mit dem Herrn Oberstlieutenant zu erlangen.«

»Ich denke, der Oberförster will nichts mehr mit ihm zu thun haben?«

»Das bietet keine genügende Sicherheit. Fragt[787] indessen nicht weiter, lieber Freund, sondern gewöhnt Euch daran, vertrauensvoll nur das zu thun, was Euch Gott und die Heiligen durch den Mund ihrer geweihten Diener zu thun heißen, und schon in dieser Well dürft Ihr auf einen entsprechend glänzenden Lohn rechnen.«

»Hm, das ließe sich eher hören,« erwiderte Andres brutal.

»Euer unglücklicher Bruder ist also nicht zu Hause?« fragte Bernhard darauf sinnend.

»Nein, das arme Geschöpf hat keine Ruhe zu Hause; heute schon in aller Frühe hat er sich wieder davon gemacht; es ist nicht seine Schuld, aber er bereitet meiner Mutter und mir doch sehr viel Kummer und Sorgen. Doch warum meinen der Herr Kaplan?«

»Weil ich heute Abend noch von einem Amtsbruder in Eurer Hülle erwartet werde und nicht wünsche, daß Euer armer Bruder in seiner Einsalt darüber spricht.«

»Vielleicht der ehrwürdige Vater Sebastian?«

»Derselbe; wir wollen noch gemeinschaftlich einen Besuch auf der Oberförsterei machen, und um auch mit Euch über – «

Was weiter folgte, erstarb wieder in einem undeutlichen Gemurmel. Ich verhielt mich so lange ruhig, bis ich die beiden Verbündeten weiter unterhalb über den Graben springen hörte, und dann Anton ein Zeichen gebend, forderte ich ihn auf, mir nach der Oberförstern hin voranzugehen.

Wir wechselten kein Wort mehr mit einander; ich bewegte mich wie ein Schlaftrunkener dahin, jeder Gedanke an eine Gefahr für mich war verschwunden; ich hegte nur noch den einen heißen Wunsch, die einzige Hoffnung, Johanna zu sehen, zu sprechen und zu warnen, und hätte ich dafür in der nächsten Stunde in den Kerker zurückgeschleppt werden sollen.

Auch Anton beobachtete ein dumpfes Schweigen. Einige Aeußerungen seines Bruders und Bernhard's hatte er, trotzdem er so tief lag, verstanden, und instinctartig herausfühlend, daß es sich um verderbliche Anschläge handle, bemühte er sich, das, was er gehört, in Zusammenhang zu bringen und auf seine Art zu deuten.

Kurz vor der Oberförsterei bogen wir von der Straße ab und auf einem Umweg gelangten wir in den Garten.

Wohl hatten uns die Hunde bemerkt, wohl hatten sie laut angeschlagen und wohl eilten sie freudig auf uns zu, sobald sie uns erkannten, allein enttäuscht begaben sie sich auf ihre warmen Lager zurück, als ihnen kein Wort des Willkommens, keine einzige Liebkosung zu Theil wurde.

Meine Blicke waren auf das Haus gerichtet; ich betrachtete das erleuchtete Fenster, hinter welchem ich meinen alten, würdigen Vormund wußte, und das Herz klopfte mir, als ob es hätte zerspringen wollen. Er ahnte nicht, wie nah ich ihm sei. Als aber endlich die Rückseite des Hauses vor mir lag und Anton, auf zwei matt erhellte Fenster deutend, mir leise sagte, daß dort Johanna sich aufhalte, mußte ich mich auf den feuchten Boden niedersehen, um nach Fassung zu ringen und mir heilig zu geloben, mich nicht von meinen Gefühlen fortreißen zu lassen und durch eine[788] plötzliche Störung das Leben des armen duldenden Engels zu gefährden.

Leise schlichen wir an das nächste Fenster heran. Eine Lampe brannte matt im Innern, und um einen Einblick von Außen zu erschweren, hatte man die durchsichtigen Gardinen niedergelassen. Es war dies ein Glück, denn ich durfte nunmehr, ohne Gefahr bemerkt zu werden, meine Stirne beinah an die Glasscheiben legen.

Nach kurzem Zögern faßte ich mir ein Her; und mich auf die Brüstung lehnend, blickte ich in das Gemach hinein. Todtenstille herrschte in demselben. Anfangs sah ich nur den Lichtschimmer; denn alles Uebrige erschien durch die Gardinen wie mit einem Nebel überzogen; doch je länger ich hinüber schaute, um so deutlicher traten die Formen der einzelnen Gegenstände hervor, bis endlich Alles, zwar verschleiert, aber erkennbar vor mir lag.

Die Gattin meines Vormundes bemerkte ich zuerst; sie saß auf einem niedrigen, rohrgeflochtenen Stuhl vor einem Tischchen, auf welchem eine grün verhangene Lampe brannte. In ihren Händen hielt sie ein Buch, in welchem sie eifrig las; ihr Antlitz hatte sie halb abgewendet, doch wie ehemals thronte auch jetzt noch immer der freundliche, wohlwollende Ausdruck auf demselben, der sich so ansprechend mit einer tiefen, hingebenden Frömmigkeit paarte. Meine Augen rasteten indessen nicht lange auf ihr, unruhig forschte ich weiter, und mit den Blicken der Richtung folgend, in welcher die alte Dame von Zeit zu Zeit ihr etwas gesenktes Haupt emporhob, entdeckte ich endlich Johanna. –

Der Athem stockte mir; ein tiefes, unbeschreibliches Wehgefühl ergriff mich, und indem ich regungslos auf sie hinstarrte, fühlte ich, daß Thräne auf Thräne meinen Augen entrollte.

»Ist das Johanna, oder ist es ein künstliches Gebilde aus Alabaster?« fragte ich mich, indem meine Blicke, wie gebannt, auf der noch immer lieblichen Erscheinung hafteten. »Ist das meine Johanna? Meine treue, jugendfrische Johanna, die vor zwölf Monaten ihr liebes Antlitz holdselig erröthend an meiner Brust verbarg und mit beseligendem Ausdruck mir ihre Gegenliebe gestand?«

Nein, das war nicht die Johanna von früher, und dennoch, dennoch war sie es, aber verändert, entsetzlich verändert.

In einem Stuhl mit hoher Lehne saß sie da; ein weißes Nachtkleid verhüllte ihren Oberkörper, während eine Decke über ihren Schooß ausgebreitet war. Das Haupt hatte sie zurückgelehnt, die milden, freundlichen Augen geschlossen, als ob sie schlummere. Keine Muskel des bleichen Antlitzes regte sich, und scharf hoben sich die schwarzen Wimpern und Brauen von der weihen Haut ab. Die dunklen, seidenen Locken hatten sich lang ausgereckt und sielen in Wellenlinien zu beiden Seilen von den Schläfen und den eingefallenen Wangen über ihre Brust hernieder, und ihre um ein kleines Crucifix gefalteten Hände ruhten nachlässig in ihrem Schooß. So saß sie regungslos da und ebenso regungslos starrte ich auf sie hin. Die leichten Tüllvorhänge hinderten mich nicht mehr, ich sah sie so deutlich, als ob ich vor ihr auf den Knieen gelegen hätte, und unbewußt,[789] wie um sie nicht zu wecken, hielt ich den Athem an.

Plötzlich hustete sie leise, die Oberförsterin blickte erschreckt zu ihr empor.

»Johanna, mein Kind, wachst Du?« fragte sie mit halblauter Stimme.

Ein süßes Lächeln flog über die marmorbleichen Hüge der Angeredeten, dann schlug sie als Antwort die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder.

»Ich habe geträumt, meine liebe Tante,« sagte sie dann mit matter, aber noch immer melodischer Stimme, »ich sah meine Mutter und meinen Vater, meinen Vater, den ich im Leben nicht kennen gelernt habe. Sie winkten mich zu sich und sagten, daß Gott ihnen um meinetwillen vergeben habe. Der Geist meiner Mutter hat seine Gebeine aus den Fluchen des Rheins hervorgeholt, und ich habe Beide von der ewigen Verdammniß gerettet.«

»Das hast Du, mein liebes, theures Kind, und Gott wird es Dir lohnen,« versetzte die Oberförstern, lief bewegt.

»Ach, wenn mein guter Onkel doch ebenfalls zur Erkenntniß kommen und aus dem Pfade der Sünde umkehren wollte; wie glücklich, wie selig wollte ich sein, mit all' meinen Lieben dort oben zusammenzutreffen!«

»Bete für ihn, mein Kind, bete für ihn inbrünstig, wie ich schon seit vielen Jahren gethan, und glaube, Gott wird mit seiner Seele Erbarmen haben und, seiner übrigen vortrefflichen Eigenschaften wegen, ihm seine religiöse Verirrung nicht so hoch anrechnen.«

Johanna's Lippen bewegten sich, offenbar im Gebet, worauf sie das Crucifix emporhob und es andächtig küßte.

»Heilige Maria, Du schmerzensreiche Mutter des am Kreuze Gestorbenen, stehe mir bei!« sagte sie dann laut und klar, jedoch ersichtlich mit großer Anstrengung, »stehe mir bei, in meinem Bestreben, die sündhaften Gedanken an das Irdische zu verscheuchen! Heilige Jungfrau, sein Bild, so treu, so schön, so verführerisch, tritt mir immer wieder vor die Seele. Erbarme Dich meiner; ich sehe ihn mit schweren Fesseln an den Händen, seine Augen wehmüthig auf mich gerichtet! Heilige Jungfrau, Königin der heiligen Heerscharen, erweiche seinen Sinn, sein Herz! Lenke ihn in seinen Handlungen, daß er in sich gehe und sich bekehre und mir die Hoffnung bleibt, ihn wenigstens im Himmel wieder zu sehen – der Gedanke an meine Vereinigung mit ihm, war ja so süß – so beseligend – «

Ein heftiger Hustenanfall erstickte ihre Stimme. Die Oberförsterin stand auf und ordnete sorgfältig die Kissen, welche der armen Kranken hinter die Schultern geschoben worden waren; ich aber rang die Hände verzweiflungsvoll, und wenn ich jemals in meinem Leben aus tiefstem Herzensgründe gebetet, dann geschah es in jenem Augenblick, als ich Gottes Strafgericht auf Diejenigen herabflehte, welche zu fluchwürdigen Zwecken kaltblütig einen Engel geopfert hatten.

Wohl fragte ich mich, indem ich meine Blicke fest auf das theure, tief leidende Antlitz richtete, ob ich den Jammer verschuldet, doch mein Gewissen blieb ruhig, es klagte mich nicht an. Ich war leichtgläubig[790] gewesen, mein aufflammender Enthusiasmus, mein Sinn für hochfliegende, phantastische Pläne, Alles war mit berechnender Bosheit schändlich mißbraucht worden, um zuerst mich und demnächst Johanna zu verderben, uns Beiden einen schrecklichen Untergang zu bereiten.

O, wie brannte mir der Blick Bernhard's, den er mir einst an dem Mineralbrunnen zuschleuderte, jetzt plötzlich wieder in die Seele. Und ich hatte ihm getraut, dem Heuchler, der nur darauf ausging, mich aus dem Wege zu räumen, um desto leichteres Spiel bei der armen, schutzlosen Waise zu haben. Ja, ich fühlte es, er, nur er hatte Johanna die traurige Geschichte ihrer Eltern mitgetheilt; er hatte sich als elendes Werkzeug des verbrecherischsten Fanatismus und persönlicher Rache, mit andern Worten, von Denjenigen benutzen lassen, die einst Johanna's Eltern in's Verderben stürzten. Indem er aber durch ein teuflisches Gewaltmittel Johanna's Gemüth für seine Lehren zugänglich machte und demnächst die Seelen längst Gestorbener angeblich aus der ewigen Verdammniß rettete, hatte er seine Aufgabe meisterhaft gelöst. So dachte ich, indem es immer klarer vor meinem Geiste wurde, und das Gebet, mein Flehen um Gnade für die heißgeliebte Dulderin verwandelte sich in den entsetzlichsten Fluch über ihre Verderber! –

Der Husten hatte nachgelassen, Johanna war erschöpft zurückgesunken, und vor ihr faß wieder die trauernde Pflegemutter, mit ergebungsvoller Theilnahme ihre zarte, hinfällige Schutzbefohlene betrachtend. Meine Augen waren jetzt trocken, aber sie brannten mir im Kopfe und der Schweiß rieselte mir von der Stirn; ich achtete weder auf Anton, der mich geängstigt und entsetzt anstarrte, noch auf meines Vormundes Lieblingshund, der mir nachgeschlichen war und sich zutraulich zu meinen Füßen niederkauerte. Meine Blicke hafteten fest an dem lieben Engelsbilde, an den geschlossenen Augen, an den eingefallenen Wangen, welche die tödtliche Krankheit mit einem flüchtigen, dunkeln Purpur unheimlich geschmückt hatte.

Ihre Lippen öffneten sich wieder, und noch dichter brachte ich meine heiße Stirn an die Fensterscheiben, um mir leinen Laut ihrer trauten Stimme entschlüpfen zu lassen.

»Die Tochter ihres Vaters – o, wie sündhaft, an irdische Weissagungen zu glauben – er wird in sich gehen und sein Spiel nicht mehr mit der Vorsehung treiben. Ich war nicht dazu bestimmt, ihn glücklich zu machen, sondern die Sünden meiner Eltern zu sühnen. Welch beseligendes Gefühl: für Andere leiden zu dürfen! Ach, wäre es mir doch vergönnt, auch seine Schuld auf mich zu nehmen und abzubüßen! Tante, liebe theure Tante, was kann ich für ihn thun, um ihn auf den Weg des Seelenheils zurückzuführen? Was in meinen Kräften lag, das ist geschehen; ich gab meine geringe Habe hin, um ihn aus dem Kerker zu befreien, doch habe ich durch diese irdische Fürsorge die Ruhe meiner Seele noch nicht gewonnen. O, Tante, wenn es mir gelänge, ihn zu belehren, wie sollte die Hoffnung auf ein Wiedersehen vor Gottes Thron mein Gemüth erheben! Aber er ist fern, er kennt meine Wünsche nicht, nicht mein heißes, inniges[791] Flehen zu Gott und allen Heiligen. Er wird in der Welt umherirren freundlos und liebeleer, und endlich unvorbereitet in seinen Sünden dahinfahren. Armer, armer Gustav, was kann ich für Dich thun!?«

»Bete für ihn, mein Kind; vertraue auf die Gnade Gottes und die Fürsprache der Heiligen und bete für ihn und für Dich. Aber mein Kind, schütte im Stillen Dein Herz vor dem Allmächtigen aus und sprich nicht so viel und so laut. Du hast auch Pflichten gegen Dich zu erfüllen.«

Ein mehrere Minuten langes Schweigen folgte jetzt.

»Wie viel Uhr ist es?« fragte Johanna, ihre Augen aufschlagend.

»Halb zehn, meine Tochter.«

»Um zehn Uhr wollte er mit dem ehrwürdigen Vater Sebastian eintreffen, um mich von ihm segnen zu lassen.«

»Er wird kommen, baue fest darauf, meine Tochter, denn er sehnt sich nicht minder danach, Dir geistlichen Trost zu gewähren, wie Du, ihn entgegenzunehmen. Seine frommen, erhebenden Worte werden Dich trösten und Gott Dir einen kräftigenden Schlummer senden.«

Nach diesen Worten schaute die Oberförsterin mit einer kurzen Bewegung nach der Thür hinüber. Es mußte geklopft haben, denn auf ihr »Herein« öffnete sich dieselbe, und in das Gemach trat mit vorsichtigen Schritten der alte Oberstlieutenant.

Ein Lächeln des Willkommens belebte Johanna's bleiche Züge, während die Oberförsterin ihrem Gatten die Hand reichte und traurig auf ihren geliebten Schützling deutete.

Ja, es war mein Vormund selbst; er zeigte noch immer die aufrechte, straffe Haltung von früher, allein in seinem Gesicht war eine große Veränderung vor sich gegangen. Der freundliche, joviale Ausdruck, der den alten Krieger so wohl kleidete, war verschwunden und an dessen Stelle ein so tiefer, schweren Gram bekundender Ernst getreten, daß sogar ein unbetheiligter Beobachter nicht auf ihn hätte Hinsehen können, ohne die innigste Theilnahme zu empfinden.

Nach der ersten Begrüßung betrachtete er Johanna eine Weile sinnend; sein langer, weißer Schnurrbart zuckte heftig hin und her und mehrfach fuhr seine Hand nach der Augenklappe, um seine schmerzliche Bewegung dadurch zu verbergen. Dann aber trat er dicht neben Johanna hin und seine Hand behutsam auf ihr Haupt legend, fragte er äußerlich ruhig, wie sie sich befinde.

»Viel, viel besser, lieber Onkel,« lautete die mit rührendem Ausdruck gegebene Antwort, »indem meine Seele sich mehr zu Gott hinneigt, schwinden meine körperlichen Schmerzen; Du glaubst nicht, lieber Onkel, welche treue Stütze die katholische Religion gewährt; legt sie es doch in die Hand der Menschen, nicht nur für ihr eigenes Seelenheil, sondern auch für das längst Verstorbener Sorge zu tragen. Denke nur an meine armen Eltern, wie glücklich für sie, daß ich ihre Sünden auf meine Schultern nehmen darf.«

Der Oberstlieutenant warf einen leeren Blick durch das ganze Gemach, räusperte sich mehrere Male und zupfte an seiner Augenklappe, als wenn er sie[792] hätte abreißen wollen, und dann legte er seine Hand wieder auf Johanna's Haupt.

»Armes liebes Kind,« sagte er sanft, »laß die Verstorbenen, sie befinden sich bei unserm lieben Herrgott, und da sie ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, so ist es ihre eigene Schuld, wenn sie ihm keine guten Worte geben. Kümmere Dich mehr um Deine Krankheit, und nicht um der Pfaffen werd – ich wollte sagen, um die Religion in: Allgemeinen.«

Johanna schaute ernst zu ihrem Onkel empor, während ein Blick milden Vorwurfs aus den Augen seiner Gattin ihn streifte.

»Onkel, zürnst Du mir?« fragte Johanna endlich nach Minuten langem Schweigen.

»Wie könnte ich Dir zürnen, mein Kind? Ich zürne Dir nicht, und kämest Du auf den Gedanken, mich auch noch um mein letztes Auge zu bringen.«

»Ach, Onkel, wenn Du mich so sehr liebst, dann wirst Du auch auf meine Worte hören, aus meine Worte, die vielleicht die letzten Wünsche einer Sterbenden enthalten. Onkel, Du bist in Deinem Leben vielleicht nie in der Lage gewesen, über die Zukunft nachdenken zu müssen, so wie ich jetzt; höre daher meine warnende Stimme, kehre um auf dem sündigen Wege, auf welchem Du wandelst, geh' in Dich, bedenke, Du stehst am Abend Deiner Tage; aber noch ist es Zeit, und die Freude über einen reuigen Sünder wird im Himmel größer sein, als die über hundert Selige –«

»Sprich nicht so viel, mein Kind, ich bitte Dich darum,« unterbrach sie der Oberstlieutenant, vor verhaltenem Grimm und vor Trauer seinen weißen Schnurrbart rücksichtslos zerzausend, »nein, Johanna, Du darfst nicht so viel sprechen, es schadet Dir. Damit Du aber ungestörter bist, werde ich jetzt gehen. Gute Nacht, Schätzchen, sich mich nur nicht so trübe an, ich will mir ja Deine Worte überlegen, über nun sei auch zufrieden.« Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, küßte er sie auf die Stirn, und sich dann kurz umwendend, entfernte er sich mit dem ihm eigenthümlichen festen Schritt.

Die Oberförsterin weinte still vor sich hin; Johanna aber hielt ihre verklärten Blicke auf die Thür gerichtet, durch welche der Oberstlieutenant verschwunden war.

»Tante, hast Du es gehört?« sagte sie heiter, »er will sich meine Worte überlegen, und ich weiß, die Folge davon wird sein, daß er sich bekehrt.«

»Ich hörte es, meine Tochter,« entgegnete die Oberförsterin kaum vernehmbar und zweifelnd, denn sie kannte ihren Gatten genugsam, um zu wissen, wie seine Worte gemeint gewesen. –

Die letzte Scene schien wieder besonders erschöpfend auf Johanna eingewirkt zu Haben, denn sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, wie zum Schlaf.

Die Oberförsterin trocknete ihre Thränen, und nachdem sie sich überzeugt, daß das Licht Johanna nicht blende, vertiefte sie sich in ihr Gebetbuch, und in dem Gemach wurde es wieder still.

»Anton, ich ertrage es nicht länger,« sagte ich leise, indem ich einen Schritt zurücktrat und mich[793] schwer auf meinen treuen Begleiter stützte; »ich muß Ruhe haben, ich muß meine Gedanken sammeln, irgend einen Plan entwerfen, um den bösen Einfluß der schurkischen Priester zu brechen, oder sie – sie findet ein frühzeitiges, unverdientes, schreckliches Ende.«, »Ja, lieber junger Herr, wir wollen gehen,« versetzte Anton, der mir aufmerksam zugehört, aber den eigentlichen Sinn meiner Worte nicht begriffen hatte.

In demselben Augenblick knurrte der Hund, und um das Haus herumeilend, stürmte er gemeinschaftlich mit den andern Hunden bellend und lärmend dem Hofthor zu.

»Jemand kommt,« bemerkte Anton ängstlich. »Es werden die beiden Priester sein,« entgegnete ich, mich tiefer in den Schatten der entlaubten Apfelbäume zurückziehend, denn ich erinnerte mich, verstanden zu haben, daß Johanna deren Besuch noch erwartete.

»Sie gehen in's Haus,« flüsterte Anton weiter, »der Weg ist frei, kommen der junge Herr, wir wollen in mein Schloß zurückkehren.«

»Noch nicht, noch nicht,« erwiderte ich, sobald ich hörte, daß die Hausthür geöffnet und wieder geschlossen wurde, »ich muß die beiden Menschen erst sehen, die meine arme, treue Johanna, Anton verstehe mich recht, das liebe, engelgleiche Fräulein an den Rand des Grabes gebracht haben;« und so sprechend zog ich ihn nach dem Fenster hin, wo sich auch der Hund bereits wieder eingefunden hatte.

Anton, in seiner Besorgniß um mich, folgte nur ungern, er erhob indessen keinen ernstlichen Widerspruch, und gleich darauf befand ich mich auf meiner alten Stelle, durch scharfes Hineinsehen in's Fenster meine Augen an die matte Beleuchtung gewöhnend.

Es dauerte nicht lange, bis die Thür geöffnet wurde, und leise, wie das Verbrechen unter dem Schütze der Nacht, schritt Bernhard, gefolgt von einem älteren, ebenfalls dem geistlichen Stande angehörenden Herrn, in das Gemach hinein.

»Gesegnet sei Euer Eingang und Euer Ausgang,« sagte die Oberförsterin, indem sie sich erhob und den beiden Herren die Hand entgegenreichte.

»Friede sei mit Euch, nun und immerdar,« antwortete Bernhard, seine schwarzen, siechenden Augen mit den Lidern halb verschleiernd.

»Und mögen Gott und die heilige Jungfrau Maria Euch auf Euren Wegen leiten, halten und beschirmen,« fügte der andere Priester hinzu, indem er zuerst gegen die Oberförsterin und demnächst gegen Johanna das Zeichen des Kreuzes schlug.

Die Oberförsterin verneigte sich fromm, Johanna dagegen blieb regungslos sitzen; aber aus ihren seltsam verzückten Blicken und aus der Art, in welcher ihre um das Crucifix gefalteten Hände krampfhaft zuckten, ging hervor, wie tief das Erscheinen der beiden Geistlichen sie ergriff, und wie schwer die Fesseln waren, in welche diese ihr leicht empfängliches Gemüth zu schlagen und ihren Geist zu verwirren verstanden hatten.[794]

»Endlich,« sagte sie kaum verständlich, als Bernhard zu ihr herantrat und ihr mit scheinheiliger Geberde die Hand reichte, »o, wie meine Seele nach Ihnen und Ihren göttlichen Offenbarungen gedürstet hat,« fuhr sie fort, seine Hand andächtig an ihre Lippen führend.

Bei diesem Anblick hätte ich vor ohnmächtiger Wuth und unsäglichem Weh laut aufschreien, ihr zurufen mögen, sich nicht durch die Berührung des schwarzen Verbrechers zu beflecken. Doch ich war ja ein Geächteter; der Ton meiner Stimme hätte sie vielleicht getödtet und mich zum Mörder gemacht. Aber meine Finger umklammerten vor namenloser Qual das Fensterbrett, daß es laut knackte, und Anton, von Entsetzen ergriffen, mir zu Füßen sank und, meine Kniee umklammernd, mich anflehte, doch nicht absichtlich mein Verderben herbeizuführen.

Meine Besinnung kehrte bald wieder zurück und zugleich durchströmte mich eine eisige Ruhe. Bis auf den letzten Tropfen hatte ich den Giftbecher geleert; es gab nichts, gar nichts mehr in der Welt, was mich noch tiefer zu erschüttern vermocht hätte. Aber mein Geist arbeitete schwer, meine Zähne knirschten heftig aufeinander, und Alles, was ich dachte, hoffte und wünschte, wurde zum Nothschrei, zu einem Schrei der Rache und des Fluches, den ich aus tiefstem Herzensgrunde zum Himmel emporsendete.

»Theure, überglückliche Tochter, die Sie Gnade gefunden haben vor dem Erlöser, die Sie in der gebenedeiten Jungfrau Maria eine so treue und warme Fürsprecherin vor dem Throne des Allmächtigen gewonnen, auf meinen Knieen und im Staube danke ich es Gott und Ihrem Schutzheiligen, daß ich elender Sterblicher zum Werkzeug auserkoren worden bin, Ihren Geist zu erleuchten und Ihnen den dornenvollen, aber einzigen Pfad zur ewigen Seligkeit zu zeigen und zu ebnen,« sprach Bernhard nach kurzem Sinnen, mit heuchlerisch bebender Stimme zu dem armen, ehrfurchtsvoll lauschenden Opfer. »Ja, meine Tochter, Sie, eine der beneidenswerthesten[801] Ihres Geschlechtes, die Sie fortan immer mächtiger an der kräftigen Hand Ihrer treuen und von Gott gesegneten Beschützerin im wahren Glauben erstarken werden, Sie, dreifach beneidenswerth, weil es Ihnen vergönnt wurde, die Sünden Ihrer Eltern zu sühnen, Sie sollen von einer höheren, würdigeren Hand, als die meinige ist, gesegnet werden und bringe ich Ihnen daher Jemand, den ich und alle meine Brüder mit Stolz unser edles Vorbild nennen.«

Nach dieser Rede, welche nicht nur darauf berechnet war, Johanna auf's Aeußerste aufzuregen, sondern auch in der Seele der Oberförsterin alle Rücksichten für das irdische Wohlergehen ihrer Pflegebefohlenen zu ersticken, trat Bernhard einen Schritt zur Seite, und als Johanna schüchtern emporschaute, blickte sie in die mild und salbungsvoll gesenkten Augen des andern Geistlichen.

Ich glaubte zu bemerken, daß sie leicht zusammenzuckte; ob nun in Folge eines körperlichen Schmerzes, oder weil die schwarzen Augen des Fremden, wie einst die Bernhard's, einen unheimlichen Eindruck auf sie ausübten, vermochte ich nicht zu unterscheiden. Wohl aber gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß ein unbefangener Beobachter nur in das gelbe Antlitz mit den halbversteckten, glühenden Blicken und den herabhängenden Mundwinkeln zu schauen brauchte, um sogleich ein Mitglied jener selbstsüchtigen, scheinheiligen Gesellschaft zu errathen, für welche, zur Erreichung ihrer Zwecke, lein Mittel zu niedrig, zu frevelhaft ist.

Ich selbst betrachtete ihn mit Abscheu, und eine innere Stimme sagte mir, daß ich denselben Geistlichen vor mir sehe, der bereits vor Jahren seine gierigen Krallen nach dem noch hülflosen Kinde ausstreckte; schon damals vor den Menschen beweisen wollte, daß die alleinseligmachende Kirche, ohne nach den Wünschen und dem Willen der Eltern fragen zu brauchen, nie ihre Ansprüche an Jemand aufgebe, der auch nur im Entferntesten in Beziehung zu ihren Lehren gebracht werden könne.[802]

Mißglückte der Versuch bei dem Kinde, so war er bei der Jungfrau von um so besserem Erfolg begleitet gewesen; die Mittel, deren man sich dazu bedient hatte, kamen ja nicht weiter in Betracht, wenn man nur den Triumph feierte, das reuige, verirrte Schaf nach dem ihren Lehren entsprechenden Ritus beerdigen und dem Volke ein neues schlagendes Zeugniß von der Allmacht und der Allwissenheit der Kirche liefern zu können.

»Die heilige, unbefleckte Jungfrau Maria stärke Dich im Glauben; der heilige Johannes von Nepomuk, Dein Schutzheiliger, sei Dein Vertreter vor dem Richterstuhl des Herrn,« sagte der fremde Geistliche, seine Hand segnend auf Johanna's Haupt legend; »durch meinen theuren Amtsbruder erfuhr ich, daß Sie, meine Tochter, auch noch aus einem andern Munde, als dem seinigen, geistlichen Trost und Rath zu empfangen, durch einen andern Mund, als den seinigen, die Bedenken und Zweifel gelöst zu haben wünschten, welche Sie aus Ihrem frühern Zustande religiöser Hülflosigkeit mit herübergebracht haben. Sie befürchten eine zu große Nachsicht von Seiten meines an Jahren so viel jüngeren Bruders; es ist dies natürlich und verzeihlich; aber meine Tochter, wem der Herr ein Amt verliehen hat, dem verleiht er auch gnädig die entsprechenden Fähigkeiten. Die Wahrheit, von welchen Lippen sie strömen mag, bleibt immer dieselbe. Doch mit Freuden bin ich hierher geeilt, und einen himmlischen Genuß soll es mir gewähren, wenn Sie, meine theure und vielgeliebte Tochter, aus meinen Worten ein neues Scherflein Zuversicht auf die Barmherzigkeit Gottes schöpfen. Sprechen Sie daher, sprechen Sie offen und frei, wie es den reuigen Sündern vor den Sendboten und Dienern des Herrn geziemt.«

»O mein Vater, verzeihen Sie, wenn ich einen neuen Beweis meines schwankenden Vertrauens ablege,« sagte Johanna mit fester Stimme, und die Anstrengung und geistige Spannung prägten sich in der flammenden Röche auf ihren Wangen aus, »indem man mir, Gott sei dafür gepriesen, die traurige Geschichte meiner armen, irregeleiteten Eltern mittheilte und es in meine Macht legte, die Theuren zu retten, hat man eine schwere, aber dafür um so süßere Verantwortlichkeit auf meine Seele gewälzt. Ich kämpfe mit aller Kraft, meine heiligen Pflichten, als Kind sowohl, wie auch als rechtgläubige Christin, gewissenhaft zu erfüllen; ich bete Tag und Nacht, ich strebe redlich, alle irdischen Gedanken von mir zu bannen, und dennoch schwebt mir sein Bild, das Bild meines frühern Freundes beständig vor. O, mein Vater, ich weiß es, es ist der Versucher, der mir in lieblicher Gestalt naht; helfen Sie mir, helfen Sie mir ihn verscheuchen, oder ich sinke unter der Wucht der mir auferlegten Prüfung zusammen!« Nachdem der Priester so lange gewartet, bis ein neuer Hustenanfall, der den Aeußerungen ihrer traurigen Gemüthsstimmung auf dem Fuße nachfolgte, sich gelegt hatte, zog er einen Stuhl zu Johanna heran, und sich niedersetzend und das in des armen Schlachtopfers gefalteten Händen befindliche Crucifix wie segnend berührend, hob er in sanfter eindringlicher Weise an:

»Warum soll ich, warum wollen Sie selbst die[803] freundlichen Bilder aus Ihrer Erinnerung streichen? Der Versucher ist es nicht, der Ihnen erscheint, sondern es lebt in Ihnen der unbestimmte Wunsch, Denjenigen, der Ihnen einst das Theuerste auf Erdenge wesen, ebenfalls auf den Weg des Heils zurückzuführen. Beten Sie für ihn und fahren Sie fort, seiner zu gedenken, aber gedenken Sie seiner, wie eines Verstorbenen. Abgesehen von seiner unglücklichen, religiösen Richtung, abgesehen von seinen politischen Verirrungen, war er stets ein achtbarer Charakter, der die freundliche Theilnahme seiner Mitmenschen wohl verdiente. Eine Versündigung ist es daher nicht, wenn Sie, selbst in Ihren Gebeten und frommen Betrachtungen seiner gedenken, aber er ist todt für Sie. Sie haben mit edler christlicher Aufopferung Alles für seine Befreiung hingegeben. Sie haben mit der rechten Hand hingegeben, ohne daß die linke darum wußte; selbst vor Ihrem Beichtvater und Ihrer hochherzigen Frau Tante verheimlichten Sie die gute That. Gott lohnte Ihren Edelmuth, indem er das Unternehmen gelingen ließ: Ihr armer, bedauernswerther Freund befindet sich zur Zeit auf der Reise nach fernen fremden Ländern, bis wohin der Arm der hiesigen Gerechtigkeit nicht reicht. Trübsal, Kummer und Elend werden auf ihn einstürmen und, so Gott will, sein Gemüth erweichen; beten Sie daher für ihn, daß er siegreich aus dem Kampfe hervorgehe, und sei es auch erst in der letzten Stunde seines Lebens, sich in die Arme der alleinseligmachenden Kirche werfe, um einst im Jenseit ein Wiedersehen zu ermöglichen. Er ist todt für Sie, aber ohne Zweifel und Beängstigungen zu empfinden, dürfen Sie seiner gedenken, für ihn beten.«

»Mein Vater,« bat Johanna, ihre vor Entzücken strahlenden Augen mit stehendem Ausdruck auf den Geistlichen heftend, »dann gewähren Sie mir den Trost, gemeinschaftlich mit mir für das Wohl meines armen, verlassenen Freundes zu beten.«

»Sie nehmen mir das Wort von den Lippen,« versetzte der Priester, sich erhebend, und zugleich Wechselte er heimlich mit Bernhard Blicke des Mißmuthes und auch wieder triumphirender Zufriedenheit, »vereinigt wollen wir für ihn beten, vereinigt zu dem Allmächtigen flehen, daß er ihn erleuchte und von der ewigen Verdammniß errette.«

Es folgte jetzt das Rücken von Stühlen, die beiden Geistlichen und die Oberförsterin bewegten sich mehrfach in stiller Geschäftigkeit aneinander vorbei, die Lampe wurde auf einen Stuhl gerade vor Johanna hingestellt, und als dann wieder Ruhe eintrat, da kniete der ältere Geistliche mit einem aufgeschlagenen Buche grade vor der Lampe, und zu beiden Seiten von ihm knieten, mit gleich andächtiger Miene, der schurkische, heuchelnde Bernhard, und die von der unumstößlichen Wahrheit ihrer Religion tief durchdrungene alte Dame.

Johanna hielt das Crucifix inbrünstig an ihre Brust gedrückt; ihren vor Mattigkeit halb geschlossenen Augen entströmten Thränen der Freude, und auf ihren eingefallenen Wangen wechselte wieder die krankhafte Röthe mit der tödtlichen Marmorfarbe.

Der Priester begann mit murmelnder Stimme ein lateinisches Gebet abzulesen. Es war dies das Letzte, was ich hörte und sah. Ich glaubte von[804] Wahnsinn befallen zu sein, denn nur mit der größten Anstrengung und durch den Gedanken an die etwanigen Folgen für die bis zum Tode erschöpfte Kranke, vermochte ich mich in so weit zu beruhigen, daß ich nicht durch das Fenster in die Stube brach, um die beiden Verräther, welche in ihrem Gebet das Allerheiligste auf verbrecherische Weise schändeten, vor Johanna's, meiner armen gemordeten Johanna Augen in den Staub zu treten.

»Anton komm,« sagte ich laut zu meinem erschreckten Begleiter, denn erfüllt von Abscheu, und dem namenlosesten Schmerz wäre mir in jenem Augenblick eine Entdeckung vollständig gleichgültig gewesen.

Ebenso schritt ich, trotz Anton's dringender Warnungen, mitten auf der Landstraße offen einher; eine Begegnung mit dem wilden Andres hätte ich willkommen geheißen, und mit wildem Entzücken würde ich ihn, um an ihm mit meiner Rache zu beginnen, mit meinem schweren Wanderstabc erschlagen haben.

Doch mein guter Stern wachte über mich, daß ich nicht mit ihm zusammentraf, und nachdem wir in unsere Höhle zurückgekehrt waren, stellte sich auch die Ueberlegung wieder ein, welche mir gestattete, die Verhältnisse genauer zu prüfen und auf einen Plan zur Rettung Johanna's aus der Gewalt der grausamen Feinde zu sinnen. –

Am folgenden Morgen, gleich nach Tagesanbruch, wanderte der getreue Anton nach der Oberförstern. Er war beauftragt, einen kleinen, mit Bleistift geschriebenen Zettel dem Oberstlieutenant persönlich einzuhändigen. Auf dem Zettel standen folgende Worte: »Nicht um seinetwillen, sondern um den unglücklichen Zustand Ihrer Nichte mit Ihnen zu berathen, wünscht ein Geächteter Sie zu sehen und zu sprechen. Der Bote ist sicher, der Aufenthaltsort des Verstoßenen nur ihm bekannt. Jeder Versuch, durch ihn das Versteck kennen zu lernen, wird sich als erfolglos ausweisen.«

Nach zwei Stunden brachte Anton mir die Antwort. Er halte den Oberstlieutenant in seiner Stube allein angetroffen und ihm die Nachricht unverzüglich zugestellt. Nach seiner Mittheilung zu schließen, mußte dieselbe wie ein Donnerschlag auf meinen Vormund eingewirkt haben, denn nachdem er einige Male in der Stube mit Heftigkeit auf und abgegangen war, hatte er sich auf einen Stuhl geworfen und wohl eine halbe Stunde in tiefe Gedanken versunken dagesessen.

Dann war er plötzlich aufgesprungen, hatte schnell einige Worte auf einen Papierstreifen geschrieben und diesen, zusammen mit einem harten Thaler, als Belohnung für seinen Gang, dem überraschten Anton in die Hand gedrückt. Anton hatte darauf, meinem Rathe gemäß, dem Oberstlieutenant meine Lage geschildert und namentlich darauf hingewiesen, daß gerade in der Nähe der Oberförstern die größte Gefahr auf mich laure.

In Folge dessen waren Zeit und Ort der Zusammenkunft zwischen ihnen verabredet worden, und als Anton endlich ging, begleitete der alte, gütige Herr ihn noch durch die Küche, wo er den Leuten befahl, dem armen Jungen für sich und seine Mutter ein warmes und reichliches Frühstück mit auf den Weg zu geben.[805]

Er wußte ja, wozu Anton die Speisen verwenden würde, denn als er mir dieselben vorsetzte, dampften sie noch, so sehr hatte er sich mit seinem Einherschleichen auf verborgenen Waldpfaden beeilt.

Das Papier enthielt nur wenige Worte: »Ich weiß Alles, und was ich nicht weiß, ahne ich. Der Anblick des armen Kindes sollte Dir erspart bleiben, und darum wurdest Du angewiesen, am Siebengebirge vorbeizureisen. Trotz der drohenden Gefahr bist Du gekommen; ich habe es fast erwartet. Ich will Dich sehen, um mit Dir über Johanna zu berathen und Dir meinen Segen mit auf den Weg zu geben. Sei vorsichtig um Deiner selbst willen.« –

»Also Du und Johanna, Ihr seid es, durch die ich den finstern Kerkermauern entrissen wurde,« seufzte ich vor mich hin, und die Gefühle der Rache und des Hasses wichen vor einer tiefen Wehmuth, welche ich bei dem Gedanken an so viel Liebe und Opferwilligkeit empfand.

Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 779-795,801-806.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Mandanenwaise
Die Mandanen-Waise. Erzählung aus den Rheinlanden und dem Stromgebiet des Missouri. Roman
Die Mandanenwaise
Die Mandanenwaise. Erzählung aus den Rheinlanden und dem Stromgebiet des Missouri von Balduin Möllhausen

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon