Erinna an Sappho

[735] (Erinna, eine hochgepriesene junge Dichterin des griechischen Altertums, um 600 v. Chr., Freundin und Schülerin Sapphos zu Mitylene auf Lesbos. Sie starb als Mädchen mit neunzehn Jahren. Ihr berühmtestes Werk war ein episches Gedicht, »Die Spindel«, von dem man jedoch nichts Näheres weiß. Überhaupt haben sich von ihren Poesien nur einige Bruchstücke von wenigen Zeilen und drei Epigramme erhalten. Es wurden ihr zwei Statuen errichtet, und die Anthologie hat mehrere Epigramme zu ihrem Ruhme von verschiedenen Verfassern.)


»Vielfach sind zum Hades die Pfade«, heißt ein

Altes Liedchen – »und einen gehst du selber,

Zweifle nicht!« Wer, süßeste Sappho, zweifelt?

Sagt es nicht jeglicher Tag?
[735]

Doch den Lebenden haftet nur leicht im Busen

Solch ein Wort, und dem Meer anwohnend ein Fischer von Kind auf

Hört im stumpferen Ohr der Wogen Geräusch nicht mehr.

– Wundersam aber erschrak mir heute das Herz. Vernimm!


Sonniger Morgenglanz im Garten,

Ergossen um der Bäume Wipfel,

Lockte die Langschläferin (denn so schaltest du jüngst Erinna!)

Früh vom schwüligen Lager hinweg.

Stille war mein Gemüt; in den Adern aber

Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blässe.


Als ich am Putztisch jetzo die Flechten löste,

Dann mit nardeduftendem Kamm vor der Stirn den Haar–

Schleier teilte – seltsam betraf mich im Spiegel Blick in Blick.

Augen, sagt ich, ihr Augen, was wollt ihr?

Du, mein Geist, heute noch sicher behaust da drinne,

Lebendigen Sinnen traulich vermählt,

Wie mit fremdendem Ernst, lächelnd halb, ein Dämon,

Nickst du mich an, Tod weissagend!

– – Ha, da mit eins durchzuckt' es mich

Wie Wetterschein! wie wenn schwarzgefiedert ein tödlicher Pfeil

Streifte die Schläfe hart vorbei,

Daß ich, die Hände gedeckt aufs Antlitz, lange

Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab.


Und das eigene Todesgeschick erwog ich;

Trockenen Augs noch erst,

Bis da ich dein, o Sappho, dachte,

Und der Freundinnen all,

Und anmutiger Musenkunst,

Gleich da quollen die Tränen mir.


Und dort blinkte vom Tisch das schöne Kopfnetz, dein Geschenk,

Köstliches Byssosgeweb, von goldnen Bienlein schwärmend.

Dieses, wenn wir demnächst das blumige Fest

Feiern der herrlichen Tochter Demeters,

Möcht ich ihr weihn, für meinen Teil und deinen;

Daß sie hold uns bleibe (denn viel vermag sie),[736]

Daß du zu früh dir nicht die braune Locke mögest

Für Erinna vom lieben Haupte trennen.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 735-737.
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