Das Brautkleid

[269] Die Flur hat angezogen

Ein grünes seidenes Kleid,

Die leichten schillernden Falten

Umfliegen sie weit und breit.


Und unter der flatternden Hülle

Schlägt ihre warme Brust,

Die Winde wollen sie kühlen

Und verglühen sich selber in Lust.
[269]

Es zucken die Sonnenstrahlen

Herunter mit blitzendem Brand,

Als möchten sie gern ihr versengen

Das neidische grüne Gewand.


Sie ruft: Ihr Strahlen, ihr Winde,

Mein Kleid laßt unversehrt!

Es ward von meinem Liebsten

Zum Brautschmuck mir bescheert.


Der Mai, so heißt mein Liebster,

Er gab es zu tragen mir,

Er sprach: Du sollst es tragen,

So lang' ich bleibe bei dir.


Und wenn ich von dir scheide,

So werd' es gelb vor Gram,

Dann laß es von den Menschen

Dir ausziehn ohne Scham.


Und leg' als nackte Witwe

Dich nieder mit deinem Leid,

Bis daß ich wieder kehre

Und bring' ein neues Kleid.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 269-270.
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