Mutter Erde

[30] Mitternächtges Dunkel spinnt

um die Welt ein heimlich Träumen;

leise singt der Frühlingswind

in den knospenschweren Bäumen.


Fern noch einer Lampe Schein,

und der Himmel schwarz verhangen – –

in den dunklen Birkenhain

bin ich einsam ausgegangen.


Schmeichelnd um die Stirne streicht

mir der Lenznacht weicher Odem,

aus den feuchten Beeten steigt

Erdgeruch und Nebelbrodem.


Aus dem Schoß der Wolken fällt

groß und warm der erste Tropfen –

und mir ist, das Herz der Welt

hör ich in der Stille klopfen.


Durch die Nacht, so kirchenstill,

geht ein Raunen und ein Regen,[30]

jedes kleinste Pflänzchen will

Zwiesprach mit dem Schöpfer pflegen.


Was in dunklen Tiefen schlief,

ruft ans Licht ein neues Werde –

und die Kniee beug ich tief

zur gebenedeiten Erde. –


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 30-31.
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