Südwärts

[259] Durch die nordische Winternacht

auf harten, hallenden Schienenwegen

fahr ich südlicher Knospenpracht

fahr ich italischem Lenz entgegen.


Tief und tiefer ins Land hinein,

scheu, wie Träume die Nacht durchgleiten.

Schon spielt ein ernster rosiger Schein

auf den weißen, schweigenden Weiten.


Und der schneeige Duft zerrinnt.

Leise will sich die Ebene heben . . .

küssend fühl ich den Morgenwind

durch das flatternde Haar mir schweben.
[259]

Und die Arme breite ich aus,

nordwärts greifen die zitternden Hände:

In das Land unserer Sehnsucht fahr ich hinaus

Und du? – Wer nur sagte, wo ich dich fände! –


Die Sonne von Capri steigt und glüht,

in den Grotten kichert es leise, lose . . .

und auf dem Monte Tiberio blüht

einsam die erste Rose.[260]

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 259-261.
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