Im Schatten des Todes

[179] All mein Gewaffen werf ich von mir, und ohne Speer und Brünne, nackt und wehrlos, steh' ich da.

Weil der Kampf so eitel ist.

Ein Atemzug durchbebt die Nacht. Von Osten kommt ein Laut, wie das Rufen eines großen dunklen Stromes.

Eine Riesenschwinge reckt sich durch des Himmels Weiten und löscht die tanzenden Lichter alle aus.

Im Schatten des Todes küssest du mich, und meine Lippen trinken das rinnende Leben von deinem Mund.

Sie trinken und trinken, bis die Adern schwellen und die Brust sich dehnt und die Augen mir zu leuchten beginnen wie Frühmorgenschein . . .

Sie trinken, bis dein Herzschlag matt wird und dein Arm erlahmt und dein letzter Seufzer wie ein Hauch vergeht in dem lauten, jubelnden, erlösten Lachen, das aus meiner Kehle bricht!

Mitten durch die Schatten des Todes, durch die weichende Finsternis schreite ich den singenden Strömen entgegen, immer dem Sonnenaufgang zu.

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Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 179.
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