Mich lockt deine Stimme

[178] Mich ruft deine Stimme aus Nacht und Not,

aus der Tiefe, darin die Flamme loht, –

sie gellt hinauf in den schimmernden Saal;

bleich werden die Gäste beim Hochzeitsmahl.


Ein Schatten fiel in des Festes Glanz, –

aus dem Haare lös' ich den Myrtenkranz;

ab setz ich das Glas mit dem glühroten Wein:

Mich ruft deine Stimme aus feuriger Pein.


Sie ruft mich hinweg aus dem sonnigen Licht;

am Finger der güldene Reif zerbricht,

auf der Stirne brennt mir das Kainsmal, –

mich lockt deine Stimme in ewige Qual.


Rosen und Myrten, die mir zum Gruß

am Boden duften, zertritt mein Fuß.

Den seidenen Schleier reiß ich entzwei . . .

ich komme, Unseliger – ich bin frei!
[178]

Und mit der Hand, die den Goldreif trug,

scheuch ich den Geier in seinem Flug – –

in die Flamme der Hölle riefst du mich,

und meine Träne rinnt über dich . . .

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 178-179.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905