Auferstehung

[231] Durch die prunkenden Hollen der Dome klingt

ein rauschendes Festgeläut –

und ein Chor von jauchzenden Stimmen singt

dem Auferstandenen heut.

Der Ostern lieblicher Veilchenduft

verkündet des Schöpfers Lob,

der von des Erlösers Grabeskluft

den steinernen Riegel hob.


Die Zeit der Wunder ist lang vorbei;

heut dringt aus eisiger Nacht

kein zitternder Erlösungsschrei

empor zu des Himmels Pracht.

Heut gilt als ehernes Gebot,

was, einst ein blutiger Spott,

die Schwachen verhöhnt und der Aermsten Not:

hilf dir selbst, so hilft dir Gott!


Hilf dir selbst, mein Volk, das in Ketten schlief,

schau dich um: die Welt ist dein!

Sie sargten unter die Felsen tief

deine heilige Freiheit ein.

Heut pulst ihr Blut, und die Zeit ist um:

»Erlöserin du lebst!«

Zum Licht wird blühen, was starr und stumm,

wenn du den Riegel hebst!
[231]

Schau dich um, mein Volk, im deutschen Land

flackert der Frührotschein –

der selige Traum vom Wunder schwand,

doch Wille und Kraft sind dein!

Der Wahltag werde dein Ostertag –

und du machst deinen Feind zum Spott,

und es dröhnt dein wuchtiger Hammerschlag:

hilf dir selbst, so hilft dir Gott!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 231-232.
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Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905