Den Frauen

[232] Den Frauen einen Frühlingsgruß!

Euch allen, die in Fron und Mühen

ihr dornenreiche Pfade geht,

euch sollen Maienrosen blühen!

Greift lachend in die rote Pracht:

ein Morgen glüht, den keine Wolke

in schwarze Schatten hüllen wird,

ein Festtagsmorgen allem Volke!


Den Frauen einen Maiengruß!

ihr tragt die Zukunft unterm Herzen,

ihr säugt die Freiheit an der Brust, –

das ist ein heilig Recht der Schmerzen:

das ist ein göttlich Frauenrecht,

das haltet fest mit starkem Wollen . . .

und eure rote Blume blüht,

wenn rings umher die Wetter grollen.
[232]

Und ob ihr wohnt am Seinestrand,

an Skandinaviens Felsentoren,

ob Londons Nebel euch umspinnt,

ob Rußlands Steppe euch geboren,

ob euch Italiens Sonne scheint,

ob euch Germaniens Eichenstärke

die Muskeln spannt: ich rufe euch

zu einem großen Maienwerke!


Den Haß, der die Nationen trennt,

soll eure Liebe überwinden,

wenn schwesterlich die Hände sich

zum letzten, großen Kampfe finden.

Des Sturmjahrhunderts Morgenschein

soll eurer Rechte Sieg verklären:

erst müßt ihr freie Menschen sein,

um freie Menschen zu gebären!


Aus märchenblauen Zeiten klingt

ein Segenswort: den Fluch des Bösen,

der auf das Haupt der Menschheit fiel,

wird einst die Hand des Weibes lösen.

Aus Lügenschlamm und Gassenstaub

wird sie den Schatz der Wahrheit heben

und segnend ihn als Hort des Rechts

den kommenden Geschlechtern geben.


Den Frauen einen Segensgruß!

Aus alter Kindermärchen Klarheit

lacht hell in all den Sonnenglanz

das heilige Angesicht der Wahrheit.[233]

Kein Traumglück mehr, kein Sehnsuchtslaut:

es gilt den Kampf! Auch euch, den Frauen,

und eure Kinder werden einst

der Freiheit Maitag feiernd schauen!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 232-234.
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