Der Friedensbote

[217] (Ein Silvestermärchen.)


Die letzte Nacht des alten Jahres sank

vom Winterhimmel blauschwarz in die Tiefen

und durch die Weiten, die im Dämmer schliefen,

und durch die Gassen, drin das Leben schäumte,

durch düstre Winkel, wo das Elend träumte,

ging still und ernst zu allen, die ihn riefen,

ein Friedensbote seinen Segensgang.


Das war kein schöner, weißlackierter Engel

mit goldnen Flügeln aus Papiermaché,

im Blondgelock der Reinheit Lilienstengel –

das war ein Mann, der längst der Menschheit Weh

und alle Not erschöpft bis auf den Grund.


Ein reifes Lächeln um den strengen Mund,

ging er dahin. Und an des Jammers Stätte

und in der Freude Hallen klang sein Schritt;

mild schenkend stand er an des Kranken Bette

und bracht den letzten, großen Frieden mit.

Und wo ein Herz, vergessen und allein,

in Aengsten rang, da trat er tröstend ein.
[217]

Und ganz zuletzt, als schon die Mitternacht

auf leisen Schuhen in die Gasse bog,

war noch ein Haus. Drei gute Stockwerk hoch,

in zwei Etagen helle Lichterpracht.

Der Laden dunkel. Hinter Fenstergittern

nur nach dem Hof zu schwaches Flämmchenzittern . . .


Der Lichtkreis trifft am Tisch den fahlen Greis,

der einsam hier vor seinem Zahlenbuch

die Nacht verbringt und Jahresabschluß hält.

Durch seine Finger rollt das blanke Geld

sein Geierauge bohrt sich in das Gold,

der Armut Schweiß und Blut, des Reichtums Sold,

und seine schmalen Lippen zittern leis:

– »Noch nicht genug, noch immer nicht genug!

Wird dies Jahr die Million mir und den Frieden bringen?« –

Da fällt ein Schatten in den hellen Kreis,

aus tiefer Oede trifft ein hauchend Klingen

das Ohr des Wucherers: »Den Frieden? – Bald!«


Ein Schauer überläuft des Alten Rücken.

Er zuckt empor mit wild verstörten Blicken

– und auf der Stiege fern ein Schritt verhallt.


Ein Stockwerk höher. Helles Gläserklingen,

Silvesternacht mit Scherzen, Spiel und Singen

nach altem Brauch. Die Wallnußschälchen schwimmen

auf klarem Wasser. Ihre Lichter glimmen,

beschriebne Wimpel flattern vom Gerüst;

des jungen Volkes heller Jubel grüßt

den glückverheißenden Zusammenstoß.

Doch mählich schwindet Lust und Lachen hin. –[218]

Zwei Schiffchen noch! Das eine trägt ja bloß

den Namenszug der jungen Lehrerin.

Wer fragt nach der – Sie steht am Tisch allein,

aus ihren Augen loht der Sehnsucht Pein,

die heiße Unruh sprengt ihr fast die Brust . . .

Und drüben lehnt, das Punschglas schon zur Hand,

des Hauses Sohn. Sein eigner Name bannt

auch ihn. – Und eines festen Ziels bewußt

zu ihr hinüber flackern seine Flammen.


Da geht ein seltsam Rauschen durch den Raum

– ein Knistern scheint's im bunten Weihnachtsbaum –

und führt die Schicksalsschiffchen leicht zusammen.


Und wieder steigt die plüschbelegten Stufen

der fremde Gast empor. Gedämpftes Rufen

und heis'res Lachen mischt sich mit dem Klirren

der Gläser hier. Aus grünem Tische rollt

aus zitternden Händen das begehrte Gold,

häuft sich und schwindet. Heiße Blicke irren

dem Flieh'nden nach. Dem blassen Jüngling träuft

von blasser Stirn der Schweiß. Er stöhnt und greift

zur leeren Börse. Da: – »Nimm hin, nimm hin!

In solcher Stunde bringt solch Geld Gewinn!«

Der falsche Freund, der ihn hierher gelockt,

schiebt ihm ein Goldstück zu. Sein Atem stockt,

schon will er nach dem Sündengeld sich bücken –

– knarrt die verschlossne Tür nicht ihm im Rücken?

Umweht's ihn nicht wie Atem einer Braut

und kost wie einer Mutter Flüsterlaut

und hallt wie längst vergessne Jugendschwüre? –[219]

– »Nimm hin, nimm hin, es bringt dir sicher Glück,

schon schwingt der erste Schlag der Neujahrsstunde!« –


– Er aber schiebt das Goldstück rauh zurück,

hochatmend grüßt er die erstaunte Runde

und schreitet langsam durch die offne Türe.


Die letzte Stiege nun, die aufwärts führt:

ein schwaches Flackerflämmchen weht im Wind,

die karge Mahlzeit steht noch unberührt

am eisigen Fenster lehnt ein Mann und sinnt.

Der Gassenlärm dringt nicht hinauf zu ihm –

sein Auge träumt in unentdeckten Fernen

und pflückt den schönsten sich von allen Sternen,

und lodernd schießt sein Blut und ungestüm

vom heißen Herzen ihm ins heiße Hirn.

Gleich einem Sturmwind beugt ihn die Gewalt

des Werdenden . . . Ein fernes Läuten hallt

in seinen Kampf. Und kühl auf seine Stirn

legt sich des Friedensboten Hand. Da ebbt

der rote Strom. Aus Urweltnebeln hebt

sich klar die Form. Und das Geschaute bleibt.

Durch Wetterwolken blitzt die Frühlingspracht . . .

Er atmet tief – und rückt das Licht – und schreibt

das Meisterwerk, das ihn unsterblich macht.


... Und Mitternacht. Ein seltsam Surren singt

in allen Ecken. Von den Pfeilern klingt

ein äffend Echo. Stille nun. Vollendet

erscheint des Friedensboten Werk. Er wendet

den Fuß zur Schwelle. Da: ein blasses Licht,

ein dumpfes Stöhnen und ein scharfer Schrei –[220]

die Kellerwohnung! – Und er ging vorbei? –

O nein, der Menschheit Jammer schreckt ihn nicht!

Er drückt die Klinke, – und er steht – geblendet:

zerwühlt die Decken rings. Den jungen Leib

in Schmerz verkrampft, ein totes junges Weib . . .

Blicklose Augen grüßen in der Hast

des Scheidens noch den fremden Friedensgast.

und ihr zu Füßen kniet, das Haupt vergraben,

ihr Gatte. Schwelend fällt der Lampe Schein

auf ihren nackten neugebornen Knaben –

der volle Schlag des Neujahrs dröhnt herein.

Da hebt der Mann den Kopf und starrt und sieht,

was niemand sah in dieses Hauses Wänden:

den Himmelsboten. Seine Starrheit flieht.

»Was willst du?« grollt er hart. »Dein Schicksal wenden

und Frieden bringen.« »Frieden?« – Hohnvoll schrill

klingt sein Gelächter. »Ob ich Frieden will,

solltest du fragen. Frieden will ich nicht!

Faul ist der Frieden, und ich will das Licht!

Ich will den Kampf. Den Kampf für Recht und Brot! –

Mein Weib starb hin in Hunger, Nacht und Not –

doch kannst du geben, gib mir frische Kraft,

die Ketten sprengt und neue Himmel schafft,

die Kraft zum Kampf!« –

Der Himmelsbote senkt

die klare Stirn und seine Seele denkt

kommender Zeiten; seine Hand berührt

des Kindes Stirn.

»Rühr meinen Sohn nicht an!«

– Hoch aufgerichtet steht der bleiche Mann –

»Dies Kind ist mein! Sein Erbe ist der Krieg

und seiner Nächte Lohn das Morgengrauen.[221]

Nach heißen Kämpfen soll sein Auge schauen,

was mir nicht mehr zu schaun vergönnt, den Sieg.

Der Sieg des Lichts sei meinem Sohn beschieden!«

– Der Schlag verdröhnt. Ein Flimmern füllt den Raum,

und eine ferne Stimme – wie im Traum –

sprach noch das Wort:

»Und mit dem Sieg – der Frieden . . .«


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 217-222.
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