Der 22. Januar

[215] ... Und aufwärts schlug aus Schnee und Eis

der Riesenbrand zum Himmelsdom,

und niederwärts rann rot und heiß

das Herzblut in den starren Strom

und ward wie Tau. Und Schuß auf Schuß

verkrachte in den Flockentanz:

das war der warme Liebesgruß

vom Väterchen des Vaterlands.


Sie stiegen aus des Elends Schooß

wie Nachtgetier aus düstrem Grund.

»Ein wenig Sonne unsrem Los!« –

Noch baten sie mit blassem Mund.

Noch trugen sie des Heilands Holz,

des Zaren Bild in erster Reih' –

da: von der Sehne flog der Bolz

und schlug das bleiche Bild entzwei!


Nun war's geschehn. Das war der Krieg.

Das erste Opfer lag im Schnee –

und über Kreuz und Krone stieg

die rote Fahne in die Höh'.

Ein Brausen klang wie Frühlingsflut,

ein Echo dröhnte dumpf und hohl . . .

Wie heißer Volkszorn wuchs die Glut

in Moskwa und Sewastopol.


Das Reich zerbricht. Die Zwingburg birst.

Des Volkes tiefste Kraft wird wach.

Ihm hilft kein Gott, ihm hilft kein Fürst

aus seiner tausendjährigen Schmach.

Sein eigner Retter soll es sein –

hell klingt sein Ruf wie hallend Erz –

und aufrecht steht's in blutiger Pein

und hebt die Toten sonnenwärts.
[216]

Und den dies Land einst Vater hieß,

wo weilt er heut am Tag der Not?

Ein Feigling, der sein Volk verließ!

Und seinem Volke ist er tot . . .

Nun stürze, was im Innern kracht,

und lodre, was da gärt und glüht,

und leuchte auf aus tiefster Nacht

der Tag, wo rot die Freiheit blüht!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 215-217.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905