Auf dem Zernsee

[268] Schön bist du auch im fahlen Glanze,

im Nebelschleier licht wie Schnee,

in hoher Pappeln Silberkranze,

du Traum der Mark, mein Havelsee!


Wie schmiegt ein Mantel – weich und lüstern –

rotgoldnes Rohr der Flut sich an!

Der Binse braune Rispen flüstern

und schmeicheln sanft um meinen Kahn.


Da plötzlich schrillt wie lautes Weinen

ein Schwanenschrei durch all die Pracht;

ein blau geheimnisvolles Scheinen

erleuchtet deiner Tiefe Nacht.
[268]

Und schwirrend hebt der Ost die Flügel,

die letzten Schleier löst er bald –

aufflammend grüßt vom Uferhügel

sein buntes Bild der Apfelwald.


So hat ein Himmelshauch entsiegelt

des Herbstes Fülle auch für mich,

und meiner Tage Reife spiegelt

in deinem klaren Auge sich.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 268-269.
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