Bergwanderung

[269] Wieder blüht das Heidekraut

auf den spinnwebgrauen Wegen;

über glatten Föhrenboden

gleiten lautlos unsre Schritte

unserm Wanderziel entgegen:

droben, wo der Bergwald blaut.


Einmal schon zur Frühherbstzeit

bin ich diesen Weg gegangen,

Höhensehnsucht in der Seele,

blühnde Heide mir zu Füßen,

fliegend Rot auf Stirn und Wangen

und das Ziel noch meilenweit.


Droben, wo der Bergwald blaut,

saß die Fee auf felsgen Zinnen;

ihre weißen Hände winkten,

ihre seidnen Schleier flogen

wie ein zart Geweb der Spinnen

über Stein und Heidekraut.
[269]

Einmal schon zur Frühherbstzeit

ging ich fehl im Märchenwalde.

Sturmwind bog die Tannenwipfel.

Fahl verschwammen alle Gipfel,

und der Schnee fiel auf die Halde –

du, wie liegt der Tag so weit!


Nimm den Strauß von Erika –

hörst du fern die Häher rufen?

Vor der Bergwelt Heimlichkeiten

sind die Schleier all zerrissen –

über grauen Felsenstufen

sehn wir schon den Gipfel nah!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 269-270.
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