Im Vorort

[271] Frühwinternacht, Sprühregen stäubt

durch Vorortstraßen, stumm und leer;

ein leises, dumpfes Donnern treibt

der Nachtwind nur vom Bahndamm her.

Durch blätterlose Pappelreihn

die blassen Nebel brau'n und ziehn –

im Osten loht's wie Feuerschein:

Da liegt Berlin.


Wie Feuerschein die ganze Nacht!

Der Menschheit Wesen scheint vertauscht,

wie hab ich oft, vom Traum erwacht,

das ferne rote Licht belauscht!

Das sang mir durch die Zeit der Ruh

die Mär vom ewgen Widerstreit,

den Lockruf aller Lüste zu –

und singt das alte Lied vom Leid.


Und durch den roten Dämmer schaun

mich irre Augen heischend an:

im Federhut erloschne Fraun,

im Efeukranz der trunkne Mann,[271]

und Kinder, zitternd, frostdurchbebt, –

das stöhnt und kichert, schluchzt und braust:

und aus dem Hexensabbat hebt

sich hammerhart die Arbeitsfaust!


Frühwinternacht. Der Regen sprüht

durch Vorortstraßen, tot und leer;

ein funkelnd Höllenauge, glüht

das Haltsignal vom Bahnhof her.

Durch blätterlose Pappelreihn

die nächtgen Nebel westwärts ziehn –

im Osten flammt's wir Frührotschein:

Das ist Berlin!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 271-272.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905