An die Stille

[48] Wann aus leichter Silberhülle

Luna niederschaut,

Sehn' ich mich nach dir, o Stille,

Wie der Jüngling nach der Braut!


Ach! mit wehmuthsvoller Rührung,

Freundin! denk ich dein,

Hier wo Leichtsinn und Verführung

Giftbethaute Rosen streun!


Wo des Lasters Stirn zu kränzen

Tausend Blumen blühn,

Wo vor wilden Taumeltänzen

Grazien und Unschuld fliehn;


Wo der Name des Verbrechers

Zu den Sternen dringt,

Und das Haupt des Tugendrächers

In des Kerkers Nächte sinkt!


O beglückt, wen in des Haines

Dämmerung versteckt,

An der Quelle Rand, ein kleines,

Buschumwölbtes Strohdach deckt!
[49]

Du nur, heilge Stille, flügelst

Hoch den Geist empor!

Führst der Hofnung Schifflein, spiegelst

Uns des Himmels Freuden vor!

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 48-50.
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