Die neue Heilige

[185] Ich grub, da schon der Purpursaum

Der Abendwolke blich,

Ein Bild in den erwählten Baum

Das deinem Bilde glich.


Doch wars wohl nur ein Zauberspiel

Der goldnen Fantasie,

Was dem verzeichneten Profil

Des Urbilds Züge lieh.
[185]

Ich ahnte, wie Pygmalion,

Des Blickes Feuergeist,

Und eines Göttermundes Ton,

Der Steine wandeln heißt.


Da säuselte des Rasens Grün,

Wie wenn, behend und leicht,

Im Tanz die Elfenkönigin

Die zarten Halme beugt.


Ich fühlte, wie bei Geistergruß,

Ein wundersames Wehn;

Drauf hab' ich an des Baumes Fuß

Ein Flämmchen wanken sehn;


Das glitt am dunkeln Stamm hinan,

Auf Oberons Geheiß,

Und schlang sich um dein Bildniß dann,

Ein silberheller Kreis;


Sanft, wie der Schein um Rafaels

Madonnenbilder stralt

Und im Krystall des Wiesenquells

Der stille Mond sich malt.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 185-186.
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