Erinnerung am Genfersee

[182] Die Sonne sinkt; ein purpurfarbner Duft

Schwimmt um Savoyens dunkle Tannenhügel;

Der Alpen Schnee entglüht in hoher Luft;

Geneva malt sich in der Fluthen Spiegel.


In Gold verfließt der Berggehölze Saum;

Die Wiesenflur, beschneit von Blütenflocken,

Haucht Wohlgerüche; Zephyr athmet kaum;

Vom Jura schallt der Klang der Heerdenglocken.


Der Fischer singt im Kahne, der gemach,

Im rothen Wiederschein, zum Ufer gleitet,

Wo der bemoosten Eiche Schattendach

Die nezumhang'ne Wohnung überbreitet.


Am Hügel, der die Fluthen weit umschaut,

Schwebt die Erinn'rung lächelnd zu mir nieder,

Und, gleich des Waldes erstem Frühlingslaut,

Ertönt die lang' vergess'ne Leier wieder.


So glänzte der Gefilde Maigewand,

So glühte fern der Schnee, so friedlich hallte

Der Heerde Läuten, als an Salis Hand

Ich dort am Weidenbusch auf Blumen wallte.
[182]

So lächelte die Fluth, so rosig schien

Der Abendhimmel durch bewegte Zweige,

So freundlich stralte durch Platanengrün

Der Stern der Dämmrung, unsres Bundes Zeuge.


Sein Lied erklang, die Wipfel neigten sich!

Im Uferschilf sah' man den Seegott lauschen:

Da schlug die Stunde! Trennung fernte mich,

Und nur Zypressen hört' ich einsam rauschen.


So weht den Schmetterling, der, kaum enthüllt,

Am Halm der Klippe festgeklammert bebte,

Der Sturm ins Meer, eh' noch im Lenzgefild

Zum Rosenhain der Blumensylphe schwebte.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 182-183.
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